NATO-Oberbefehlshaber besorgt: Verluste in Ukraine jenseits unserer Erwartungen
Die hohen Verluste und der enorme Munitionsverbrauch im Ukraine-Krieg beunruhigen führende NATO-Kommandeure. General Christopher G. Cavoli, NATO-Oberbefehlshaber in Europa, räumt ein: Auf einen Krieg dieses Ausmaßes ist das Verteidigungsbündnis nicht vorbereitet.
Das Ausmaß und die Intensität der Kämpfe in der Ukraine haben selbst die NATO überrascht. Es wirft die Frage auf, ob das Bündnis überhaupt in der Lage ist, einen Krieg mit großen Einheiten gegen Russland zu führen. Das gab kürzlich erstmals der General Christopher G. Cavoli, der NATO-Oberbefehlshaber in Europa (Supreme Allied Commander Europe, SACEUR), auf einer schwedischen Verteidigungskonferenz offen zu.
„Ausmaß dieses Krieges ist einfach unglaublich“
Seit Ende des Kalten Krieges ist die NATO zwar stark an Mitgliedern gewachsen, auf heute bereits 30 Staaten, gleichzeitig sind aber sämtliche Streitkräfte seither geschrumpft. Das Verteidigungsbündnis wurde nämlich ursprünglich im Jahr 1949 gegründet, um eine sowjetische Invasion in Westeuropa zu verhindern. Mit dem Untergang der Sowjetunion bestand diese Gefahr nicht mehr.
„Das Ausmaß dieses Krieges ist unglaublich“, zitierte „Business Insider“ Christopher Cavoli. „Seit Beginn des Krieges haben die Russen im Durchschnitt weit mehr als 20.000 Artilleriegeschosse pro Tag verschossen.“ Auf solche Dimensionen ist die NATO schon lange nicht mehr eingestellt. „Das Ausmaß dieses Krieges steht in keinem Verhältnis zu all unseren bisherigen Überlegungen“, sagte Cavoli. „Aber er ist real und wir müssen uns damit auseinandersetzen.“
Arsenale der NATO sind nicht sehr umfangreich
Eine wichtige Lektion sei: Eine groß angelegte, hochintensive Kriegsführung wie nun in der Ukraine benötigt eine entsprechende Verteidigungsindustrie, die in der Lage ist, die nötige Ausrüstung und den Nachschub zu liefern. Sie ist nicht mehr in ausreichendem Ausmaß vorhanden. Die europäischen Länder haben sich in den vergangenen 30 Jahren zunehmend auf die USA verlassen, und selbst dort gerät die Rüstungsindustrie mittlerweile unter Druck. Alle am Krieg beteiligtenn Kräfte – die USA, Russland und Europa – bemühen sich zurzeit, die Produktion von Artilleriegranaten wieder hochzufahren, nachdem sie ihre Munitionsvorräte und -fabriken nach dem Kalten Krieg heruntergefahren haben.
„Produktionskapazitäten sind nach wie vor unerlässlich, absolut unerlässlich“, sagte Cavoli. „Eine gesunde und elastische industrielle Verteidigungsbasis ist genauso wichtig wie die Zahl der Truppen”.
Nun zeigen „die verzweifelten Versuche der NATO, Waffen und Munition für die Ukraine aufzutreiben, dass die Arsenale des Bündnisses nicht sehr umfangreich sind“, schreibt der „Business Insider“. „Die USA sind wahrscheinlich am besten auf einen langen Krieg vorbereitet, und selbst dann wird die amerikanische Rüstungsindustrie Jahre brauchen, um die Produktion von Artilleriegranaten hochzufahren.“
Soft Power kann militärische Stärke nicht ersetzen
Cavoli wandte sich auch gegen den bis vor kurzem von Deutschland und anderen Ländern vertretenen Glauben, dass Soft Power (Weiche Macht) aus Diplomatie und Kultur ein Ersatz für militärische Macht geworden sei. „Hard Power ist eine Realität”, sagte Cavoli. Zwar seien Diplomatie, Cyber-Kriegsführung und wirtschaftliche Stärke wichti, „aber das große irreduzible Merkmal der Kriegsführung ist harte Macht, und darin müssen wir gut sein“. Sprich: „Wenn der andere mit einem Panzer auftaucht, sollten Sie besser einen Panzer haben“, sagte Cavoli.
Angesichts einiger Überraschungserfolge der Ukraine auf dem Schlachtfeld könnte „Präzision die Masse schlagen“. Die Sache hat nur einen Haken: Qualität braucht Zeit, um Quantität zu besiegen, und „diese Zeit wird normalerweise mit Fläche erkauft. Um diese Methode anwenden zu können, brauchen wir Raum, den wir gegen Zeit eintauschen können. Den haben nicht alle von uns, und wir müssen das in unserem Denken, in unserer Planung kompensieren.“
Dies könnte ein Eingeständnis dafür sein, dass die NATO im Falle einer russischen Invasion in den baltischen Staaten die nötige Zeit fehlen würde, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Russlands kleineren Nachbarstaaten fehlt es nämlich an strategischer Tiefe.
NATO auf Unterstützung der USA angewiesen
Nach dem Ende des Kalten Krieges beteiligte sich die NATO an mehreren militärischen Operationen. NATO-Flugzeuge führten 1999 in Serbien und 2011 in Libyen Bombenangriffe durch. Das Bündnis entsandte auch Truppen zu friedenserhaltenden Missionen nach Bosnien und in den Kosovo und kämpfte an der Seite der US-Streitkräfte in Afghanistan.
Dabei handelte es sich jedoch um kleine Operationen mit einer begrenzten Anzahl von Truppen, Flugzeugen und Munition. Schon damals wurde klar: Die NATO ist auf die Unterstützung der USA angewiesen. So gingen etwa den NATO-Luftstreitkräften in Libyen nach einem Monat die präzisionsgelenkten Bomben aus.
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