
Ralph Schöllhammer: Stockholm Syndrom
In Afghanistan wurde der Krieg gewonnen und der Frieden verloren. Militärisch kann es keine Macht der Welt mit der kombinierten Stärke der USA und Europa aufnehmen, und wäre der Konflikt mit den Taliban über Panzerschlachten und Luftduelle ausgetragen worden, hätten diese nicht den Hauch einer Chance gehabt. Aber wie der britische Militärstratege Sir Basil Lidell Hart schon vor 100 Jahren feststellte, das Ziel eines Krieges ist nicht primär die Zerstörung des gegnerischen Militärs, sondern des gegnerischen Willens. Und in diesem Sinne haben die Taliban den längeren Atem bewiesen und den Konflikt für sich entschieden – der Westen hat Humvees und Black Hawks, die Taliban Religion und Ideologie (und seit einem Monat zusätzlich Humvees und Black Hawks).
Langfristig wird im Konflikt mit dem politischen Islam letzteres wichtiger sein, denn keine materiell noch so gesättigte Gesellschaft kann ohne Glauben an die eigenen Werte überleben. Zivilisation benötigt ein Mindestmaß an materiellem Wohlstand, genug um ein wenig Muße zu ermöglichen. Noch mehr benötigt es jedoch Selbstvertrauen: Vertrauen in die Gesellschaft in der man lebt, Vertrauen in die Philosophie, die Gesetze, die Kraft, die Energie und die Vitalität der eigenen Zivilisation. Dieses Vertrauen löst sich seit ein paar Jahrzehnten jedoch immer mehr auf und ist im Begriff zu verschwinden und von einem kulturellen Masochismus ersetzt zu werden. Im gesamten Westen werden im Moment Statuen abgerissen, Straßen umbenannt und eine historische Reinigung vorangetrieben, welche in Wirklichkeit eine aufgezwungene Amnesie darstellt. Es ist eine gefährliche Arroganz der Gegenwart, wenn man meint man könne die Vergangenheit an heutigen Standards messen.
Wir leben von dem akkumulierten historischen Kapital vergangener Generationen, und schulden den Visionären des 19. Jahrhunderts mehr, als wir uns eingestehen wollen. Es ist leicht, eine Statue von Winston Churchill mit „Rassist“ zu besprühen oder sich über die angestaubten Habsburger lustig zu machen wenn man nicht weiß, dass es ohne Britisches Empire den Sklavenhandel und ohne Joseph den Zweiten die Leibeigenschaft noch länger gegeben hätte. Und bevor die üblichen Einwände kommen: Keine Zivilisation der Menschheitsgeschichte hat eine komplett weiße Weste, durch nur im Westen hat man eine selbstzerstörerische Lust entdeckt, sich nur auf die negativen Seiten zu konzentrieren. Und gerade jene, die bei den Kritikern in vorderster Reihe stehen sollten historisch etwas reflektierter vorgehen. Der moderne Individualismus mit seinem Recht auf körperliche Autonomie welche bei allen großen Debatten von Abtreibung bis Transgenderism eine zentrale Rolle spielt, ist fast ausschließlich ein Ergebnis der europäischen Aufklärung. Wer glaubt auf diese verzichten zu können, sollte sich im Klaren darüber sein, dass man damit auch jene Errungenschaften riskiert, welche in progressiven Kreisen so beliebt sind.
Wir nehmen es hin, wenn westliche Journalistinnen Kopftuch tragen
Der Migrationsforscher Paul Collier gab kürzlich im Standard ein Interview, in welchem er vor einer weiteren Massenmigration nach Europa warnt aber rasch hinzufügt, dass es „falsch wäre zu sagen, unsere Kultur ist überlegen.“ Professor Collier lehrt an der Universität Oxford die 1096 gegründet wurde und an der 1920 die ersten Frauen ihren Abschluss machen konnten. Unter den Taliban dürfen Frauen kein Sonnenlicht am Körper spüren und außer Islamstudien wird auch das Lehrangebot an der Universität von Kabul nur wenig mit Oxford gemein haben. Eine Kultur hat Oxford, die andere die Burka, aber laut Collier und Kollegen lässt sich daraus keine Überlegenheit ableiten. Collier weiß es natürlich besser, will sich aber nicht im Kreuzfeuer der Political Correctness wiederfinden, weshalb es leichter ist die westliche Kultur zu relativieren als die Pathologien in anderen Kulturen anzusprechen. Collier ist auch ein schönes Beispiel dafür, weshalb die Integration von Migranten immer schwieriger wird. Wie soll sich ein Neuankömmling in ein Wertesystem integrieren, an das wir selbst nicht mehr glauben.
Vom Relativismus zur Unterwerfung ist es jedoch oft nur ein kleiner Schritt: Wir nehmen es heute widerspruchslos hin, wenn westliche Journalistinnen in islamischen Ländern Kopftuch tragen, würde aber nie auf die Idee kommen, von muslimischen Journalistinnen zu verlangen im Westen ohne Kopftuch aufzutreten. Eine der wahrscheinlich mutigsten Journalistinnen der 20. Jahrhunderts, Oriana Fallaci, schleuderte keinem geringerem als Ayatollah Khomeini ihren Tschador vor die Füße und bezeichnete ihn als „idiotischen, mittelalterlichen Fetzen.“ Das war 1979 – als der iranische Präsident Rohani 2016 Fallacis Rom besuchte, verhüllte der Vatikan „nackte Statuen“ um den Besucher aus Teheran nicht zu kränken. Als Treppenwitz der Geschichte beantragte die Schweiz übrigens 2002 die Auslieferung Fallacis – wegen des Verdachts auf Islamophobie in einem ihrer letzten Bücher.
Ehrenmorde, weil Frauen zu westlich sind
Bevor sich der Autor dieser Kolumne selbst wegen vermeintlicher Islamophobie vor Gericht wiederfindet: Ich bin weder für ein Burka- noch ein Kopftuchverbot. Gleichzeitig bin ich aber auch dagegen diesen Outfits besonderen Respekt zu zollen. In einer säkularen Gesellschaft ist der Islam für mich nicht mehr als die Rotarier oder der Hannah-Montana Fanclub. Wenn sich ein Star-Wars Fan entscheiden sollte, den ganzen Tag im Darth Vader Kostüm herumzulaufen (was der Burka nicht ganz unähnlich ist), ist das sein gutes Recht – er kann sich aber auch jeder Menge Spott und Hohn von meiner Seite sicher sein. Die Re-Klerikalisierung des öffentlichen Raumes durch angeblich säkulare Politiker ist das größte Hindernis für eine Reform des Islam. In einer seiner ersten Reden als US-Präsident verkündetet Barack Obama 2009 dass, „die US Regierung vor Gerichten das Recht für Mädchen und Frauen erstritten hat den Hijab zu tragen und jene bestrafen wird, welche es verhindern wollen.“ Acht Jahre später fand der österreichische Präsident Alexander Van der Bellen seinen inneren Obama und kündigte an, alle Frauen aus Solidarität bitten zu wollen ein Kopftuch zu tragen. Beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach, dem Treffpunkt der intellektuellen Elite Österreichs, wurden die Tiroler Schützen mit den Taliban verglichen. Während in Afghanistan Mütter vor den Augen ihrer Kindern ermordet werden, sieht man bei den heimischen „Vordenkern“ wieder mal nur eine Gelegenheit sich über die eigenen Traditionen lustig zu machen. Ich kann mit den Tiroler Schützen ebenso wenig anfangen wie mit den Goldhauben in Oberösterreich, aber mein moralischer Kompass ist noch soweit eingenordet dass ich den Unterschied zwischen dem Lichtbratlmontag in Bad Ischl und der öffentlichen Steinigung in Gulbahar erkenne.
In den USA und Europa finden jährlich Ehrenmorde an Frauen statt weil sich diese „zu westlich“ verhalten würden, und dieser Trend wird sich dank der van der Bellens und Obamas so schnell nicht ändern. Wie soll das 16-jährige türkische Mädchen ihrem Vater erklären, dass sie lieber Minirock statt Kopftuch trägt, wenn selbst der mächtigste Mann der Welt offensichtlich letzteres bevorzugt. In einer Gesellschaft ist nicht nur der Ist-Zustand entscheidend, sondern der Trend: Und es sollte die Frage gestellt werden, ob dem Islamismus im öffentlichen Raum mehr oder weniger Platz gebührt. Der amerikanische und österreichische Präsident haben ihre Aussagen ohne Zweifel voll guter Intentionen getätigt, aber gleichzeitig für eine Seite Stellung bezogen: Sich mehr um das Recht auf Verschleierung zu sorgen als um das Recht unverhüllt am öffentlichen Leben teilnehmen zu können ist keine neutrale Position.
Frauenbadetag in Bad Vöslau
In einer Art kollektivem Stockholm Syndrom übernimmt der Westen die islamistische Weltsicht unter dem Label „Diversity“ und deutet damit die eigene Schwäche in vermeintliche Stärke um. Der Verlag der angesehenen Yale University gab ein Buch zu den Mohammed Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands Posten von 2005 heraus. Doch in dem Buch über die Karikaturen findet sich keine einzige der Karikaturen, weil man die Gefühle von Muslimen schützen wollte. In Wirklichkeit war die Motivation natürlich eine andere: Spätestens seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo und die dänischen Karikaturisten hatte man auch in Yale die Panik, potentiell zum Ziel islamistischer Anschläge zu werden. Aber moralische Selbstüberhöhung klingt besser als ein Eingeständnis von Feigheit.
Was an Realsatire grenzt ist in Wirklichkeit eine Seite einer good cop – bad cop Routine mit islamistischen Fundamentalisten auf der einen, und woken Gutmenschen auf der anderen Seite. Und in der Mitte sind exakt jene Muslime, die sich ein selbstbestimmtes Leben im Westen erhofft hatten: Ayan Hirsi Ali, Hamed Abdel-Samad, Maajid Nawaz, Seyran Ateş sind nur ein paar muslimische Reformer, die sich neben den religiösen auch gegen die woken Fundamentalisten wehren müssen.
Und hier schließt sich der Kreis mit Frauentagen in Bad Vöslau, wo indirekt kommuniziert wird wann „gute“ Mädchen schwimmen gehen und wann die sogenannten „Schlampen.“ Das oben erwähnte 16-jährige türkische Mädchen wird neben der Bekleidungsvorschrift nun auch die Badetage von ihren religiösen Verwandten vorgeschrieben bekommen und die angeblich säkularen Gutmenschen machen sich weiter zu Komplizen einer fundamentalistischen Religion.
Eine Zivilisation die sich selbst aufgeben hat braucht nicht notwendigerweise die Islamisten um endgültig über die Klippe zu springen, aber manchmal schläft man „woke“ ein und wacht unter der Scharia wieder auf.
Ralph Schöllhammer ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen an der Webster Privatuniversität Wien. Auf Twitter unter @Raphfel sowie auf seinem Podcast “The Global Wire” kommentiert er regelmäßig das globale wirtschaftliche und politische Geschehen.
Kommentare
In Afghanistan wurde kein Krieg verloren, weil keiner geführt. Sonst wären die Terroristen längst erjagt und neutralisiert worden.
Betreffend das Buch über die Mohamed-Karikaturen: Es ist freilich keine Feigheit, wenn man sich nicht zur Zielscheibe von Terroristen machen will. Ich frage mich nur, warum man überhaupt ein Buch darüber herausgeben wollte. Man gibt denen dadurch erst die Bedeutung, die sie haben wollen. Für Islamisten sind sowas Trophäen.
Ich halte es für ein Schwerverbrechen, solche Leute überhaupt in Länder zu locken, wo sowas nichts verloren hat. Es gibt genügend islamische Länder, man hatte Europa seinerzeit vom Islam in blutigen Kämpfen befreit und die aktuellen Machhaber können nicht genug davon wieder hierherholen. Was sich daraus entwicklelt, war vorhersehbar.
Man hat also diese Gefahr mutwillig hereingewunken. Die schlimmsten Feinde der Europäer sitzen in ihren eigenen Regierungen. Ohne Not wird aus den EU-Ländern schrittweise ein Bürgerkriegsgebiet geschaffen.
Die Duldung – also die Toleranz – ist kein Problem sondern eine westliche Errungenschaft, die es zu Verteidigen gilt.
Das Problem ist nicht die Duldung sondern die Selbstaufgabe in einem Wertenihilismus.
Die Duldung (die Toleranz) ist im Grunde nichts anderes, als ein Verzicht auf Gewalt. Wenn ich etwas toleriere, dann verzichte ich darauf, Gewalt dagegen anzuwenden indem ich es ablehne, dass der Staat gewaltsam dagegen vorgeht.
Toleranz ist aber nicht Akzeptanz. Als Atheist respektiere und verteidige das Recht auf freie Religionsausübung selbstverständlich. Und sollte der Staat gegen diese Freiheit vorgehen, dann bin ich auch auf der Strasse um diese Freiheit zu verteidigen.
Ich werde aber niemals Religion akzeptieren, in dem Sinn, dass ich auf Widerrede verzichte. Ich werde mich lustig machen über die religiösen Bräuche, werde sie verspotten und bekämpfen. Aber eben ohne Gewalt.
Die Freiheit ist immer die Freiheit der Anderen. Diese Idee ist eine der wichtigsten westlichen Errungenschaften. Sie steht im Zentrum unseres Wertesystems.
Freiheit bedeutet aber immer nur die Freiheit vor staatlicher Verfolgung und ist keineswegs die Freiheit vor einer Belästigung durch die Aufklärung. Die Freiheit vor Belästigung gibt es nicht.
Wir haben allen Grund stolz auf unsere Vorfahren und unsere Geschichte zu sein und auf uns selbst als Systemerhalter dieser Zivilisation. Das gilt für fast alle Nationen dieses Kontinents. Und nicht umsonst wollen alle zu uns ins gemachte Nest nach Europa. Wer seine Ahnen und seine Kultur nicht ehrt, ist dem Untergang geweiht.
Gratulation zu dem sehr treffenden Kommentar!
Für mich ist das Grundübel des Problems, dass die westlichen Kulturen ihre stärkste Errungenschaft vergessen, nämlich demokratische Entscheidungsprozesse.
Es gibt keine Mehrheit, die die Zerstörung oder das Entfernen irgendwelcher Statuen befürwortet, aber die Mehrheit lässt sich von einer radikalen Minderheit dazu drängen, das zu dulden.
Es gibt keine Mehrheit, die die Zerstörung oder der deutschen Sprache durch Gendern befürwortet, aber die Mehrheit lässt sich von einer politischen Minderheit dazu drängen, das zu dulden.
Es gibt keine Mehrheit, die die Identitätspolitik und political corectness befürwortet, aber die Mehrheit lässt sich von einer politischen Minderheit dazu drängen, das zu dulden.
Es gibt keine Mehrheit, die die Kopftücher, religiöse Verschleierung oder sexuelle Segregation in Bädern befürwortet, aber die Mehrheit lässt sich von einer politischen Minderheit dazu drängen, das zu dulden.
Wir müssen uns auf die Werte der eutopäischen Gesellschaft rückbesinnen, nämlich dass der Wille nach gesellschaftlichen Veränderungen von der Gesellschaftsmehrheit getragen werden muss.
Und der Weg dazu sind in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung Mehrheitsentscheidungen, alias Wahlen und Abstimmungen. Und wenn die politischen Parteien Mehrheitsinteressen nicht durchsetzen können, dann das Instrument Volksabstimmung, welches im diesbezüglichen Vorbildsland Schweiz bestens funktioniert.
Von Nelson Mandela stammt der Spruch “Democracy works according to the power of a majority. If power is at a minority, it is called dictatiorship.”
Die Demokratie und ihre Instrumente, zB die Volksabstimmung, sind die Lösung. Man muss sie nur nutzen (wollen).
Vielen Dank für’s Lesen – und ich glaube Sie haben absolut recht. Ein Problem ist die Blase, in der sich Politik, Medien, Kultur und Bildungseinrichtungen bewegen – wenn man nur von woken Personen umgeben ist, glaubt man schnell das ist mehrheitsfähig.
*fürs 😅
Wer den Bezug zu den Ahnen verliert oder an diesen Verrat ausübt, hat aus meiner Sicht keine Zukunft. Ob als Individuum oder als Gesellschaftskollektiv. Die Tragweite des Einflusses unserer Ahnen auf unser Wohlergehen, ist als Naturgesetz verankert. Wer Naturgesetze missachtet oder bricht, trägt früher oder später die Konsequenzen daraus.
“Eine Zivilisation die sich selbst aufgegeben hat braucht nicht notwendigerweise die Islamisten um endgültig über die Klippe zu springen, aber manchmal schläft man „woke“ ein und wacht unter der Scharia wieder auf.” ….Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!
Die Diagnose Stockholm Syndrom ist absolut richtig. Aber nicht alle Europäer haben das!
Den politisch wirklich überschaubar erfolgreichen Obama und Van der Bellen ins Stammbuch geschrieben. Johann Wolfgang von Goethe schrieb 1770 seine Dissertation über das Thema , inwieweit staatliche Gewalt bei der freien Ausübung verschiedener Religionen eine Rolle spielen sollte. Er kam zum Schluss, soweit es um die äußere Darstellung der Religionen geht, hat das staatliche Gewalt zu regeln, der innere Weg zur religiösen Glückseligkeit sollte jedem Einzelnen überlassen bleiben. Van der Bellen kennt zwar den Islam, kennt er auch Goethe und seine Dissertation? P.S. Warte schon, bis die Woken auch Goethe von der geschichtlichen /literarischen Weltkarte löschen werden wollen. Ich schließe mit Ovid: ” Principiis obsta” Wehret den Anfängen !!!