Europa hatte Glück: Der vergangene Winter war der zweitwärmste sei Beginn der Aufzeichnungen. Höchst ungewiss ist aber, ob sich das Glück nochmals wiederholt und der Kontinent ein weiteres Mal so glimpflich durch die kühlste Jahreszeit kommen wird. Wie es scheint, verlässt sich Europa zurzeit ganz darauf, und erntet dafür scharfe Kritik von Ralph Schöllhammer (Webster University). „Man sollte ein- oder zweimaliges Glück nicht mit einer guten Strategie verwechseln, aber im Moment sieht es so aus, als ob Europa genau das vorhat“, kritisiert der Politologe, der regelmäßig Gast auf eXXpressTV ist, in einem Kommentar für „Unheard“.

Europas Energiesicherheit hängt vom Wetter ab – und von Zuständen in fernen Ländern

Europa müsste viel stärker als bisher seine eigene Energieproduktion ausweiten, sagt der Experte für Energiepolitik. Das tut es aber nicht. Darüber hinaus sind Europas Gas-Lieferanten abseits von Russland keineswegs so verlässlich, wie es scheint. Wie verletztlich der Kontinent in Wahrheit ist, zeigten Schöllhammer zufolge die Streiks in australischen LNG-Anlagen. Sie ließen die europäischen Gaspreise am Freitag sofort um elf Prozent in die Höhe schnellen. „Wenn die Ereignisse in Australien ein Indikator sind, steht die Versorgung des Kontinents auf des Messers Schneide“, warnt Schöllhammer.

Von den üblichen Beschwichtigungen hält der Top-Politologe wenig. Die Gasreserven in der Europäischen Union liegen zwar bei einem Rekordwert von 93,5 Prozent, andererseits ist Europa stark von Gas-Importen aus dem Ausland angewiesen und setzt dabei zunehmend auf LNG. Die Lage könnte sich leicht verschlimmern, und schon würden die Speicher im Handumdrehen wieder leer sein, warnt der Politiwissenschaftler auf „Unheard“.

Politologe Ralph Schöllhammer hält Europas Energiepolitik für hochriskant.eXXpressTV

Jeder Störung sorgt sofort für Unruhe auf den Märkten

Da Russland nicht mehr Europas Hauptlieferant bei Gas ist, „löst jede Störung der weltweiten Versorgung sofort Besorgnis auf den kontinentalen Märkten aus“, sagt Schöllhammer. Die Streiks in Australien sind somit von erheblicher Bedeutung, denn das Land liefert etwa sieben Prozent des weltweiten Flüssiggases.

Von dieser Unsicherheit samt steigenden LNG-Preisen profitiert übrigens auch Moskau. Schließlich ist es nach wie vor ein Lieferant fossiler Brennstoffe für die EU. Seine LNG-Exporte nach Europa sind um 40 Prozent gestiegen, und Brüssel hat nicht vor, etwas daran zu ändern.

Amerikanisches LNG birgt Risiken

Allerdings ist Moskau mit einem Anteil von rund 20 Prozent nur der zweitwichtigste LNG-Lieferant nach den USA, die einen Anteil von 40 Prozent haben. Das geht mit einigen Nachteilen Hand in Hand. „Wladimir Putin mag ein politisch unzuverlässiger Lieferant sein, aber die Verbringung von LNG von amerikanischen Häfen nach Europa birgt ihre eigenen Risiken“.

An die Stelle von russischen Erdgas-Lieferungen treten nun LNG-Tanker. Das ist riskant.SCF

Die meisten Exportanlagen befinden sich an der Golfküste, „und es bräuchte nicht viel mehr als einen schweren Wirbelsturm, um fast die Hälfte der europäischen LNG-Versorgung in Gefahr zu bringen. Kombiniert man eine schwere Hurrikansaison im Golf von Mexiko mit einem kalten Winter in Europa und einem Streik in Australien, werden die zu 93 Prozent gefüllten Speicher viel schneller leer sein, als der Frühling kommen kann.“

Europa macht seine Produktionskosten von Diktatoren und Arbeitern abhängig

Genau diese Unsicherheiten seien auch der Grund gewesen, weshalb selbst eine kleine Unterbrechung der australischen Versorgung die Preise sofort in die Höhe geschnellt sind.

Der jetzige Ansatz von Europas Politikern sei offenbar, auf das Glück des vergangenen Jahres zu hoffen, dich dies sei „für die Industrie nicht tragbar, die in einem Klima weiterproduzieren müsste, in dem die Produktionskosten von den Launen der Diktatoren, warmen Wintern, einem Mangel an Wirbelstürmen und der Moral der australischen Arbeiter abhängen.“

Die Energiepreise erhöhen auch Deutschlands Produktionskosten. Das ist verheerend für die Industrie. Auf eine Lösung von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wartet man bisher vergebens.GETTY

Österreichs Erdgas-Importe sind „pfui“ – aber LNG auf einmal „hui“?

Schöllhammer fordert eine Ausweitung der Energieproduktion in Europa, „einschließlich Offshore-Bohrungen und Aufhebung des Fracking-Verbots“. Zurzeit „spielt Europa Russisches Roulette“.

PS: Man sieht daran übrigens auch, wie abwegig die jüngste Kritik am Österreichs Erdgas-Importen aus Russland ist. Martin Selmayr, Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich, nannte Österreichs Gas-Zahlungen „Blutgeld“ – der eXXpress berichtete. Was dabei völlig unterging: Zwar verzichtet die EU auf russisches Erdgas, setzt aber zunehmend auf LNG per Schiff – und das kommt nun erst Recht wieder aus Russland. Mittlerweile wurde die EU zu Russlands größtem Flüssiggas-Kunden.