Plagiatsgutachter Stefan Weber (53) wendet sich mit einer offenen Anfrage an die Führung der „Süddeutschen Zeitung“. Er ortet den Verdacht „einer sehr großen Plagiatsaffäre im Haus“ – weit größer als bisher bekannt. Im Zentrum steht das journalistische Schaffen der stellvertretenden Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid, die zuvor von 2007 bis 2017 Chefredakteurin des „Standard“ war, davon fünf Jahre auch Co-Herausgeberin.

Bisher wusste man nur so viel: Föderl-Schmid hat in jüngeren Artikeln und ebenso in ihrer vor 28 Jahren fertiggestellten Doktorarbeit mutmaßlich im großen Stil abgeschrieben. Doch nun geht es um mehr. Der Salzburger Kommunikationswissenschaftler kommt in seiner Anfrage gleich zur Sache: „Ich muss Ihnen mit dieser E-Mail die bedauerliche Mitteilung machen, dass ein dringender Plagiatsverdacht bei hunderten Artikeln von Alexandra Föderl-Schmid besteht.“

Gewohnheitsmäßiges Abschreiben seit 30 Jahren?

Mutmaßlich hätte die bekannte Publizistin dann serienweise gegen journalistische Grundregeln verstoßen, und dies mit einer Konsequenz, die es nicht mehr erlaubt, von Flüchtigkeitsfehlern oder Ungenauigkeiten zu sprechen. Stefan Weber berichtet: „Ich habe eine Big Data-Analyse von mehreren tausend Artikeln von Frau Föderl-Schmid aus ihrer Zeit beim ‚Standard‘ und bei der ‚Süddeutschen‘ ehrenamtlich und ohne bezahlten Prüfauftrag begonnen. Nach einer Analyse der ersten 69 von ca. 8000 Seiten ist fast jeder Artikel problematisch.“

Plagiatsfälle wecken das Interesse von Stefan Weber (Bild), sobald klar ist, dass es sich nicht nur um kleine Ungenauigkeiten handelt.Joachim Bergauer

Alexandra Föderl-Schmid könnte sich hier eine problematische Arbeitsweise in den Jahren 1993 bis 2004 angewöhnt haben, als sie Berlin-Korrespondentin des „Standard“ war. Gemäß Stefan Weber hat sie schon damals für ihre Online-Artikel „Textpassagen übernommen …, die bereits tags zuvor vorwiegend in ‚Spiegel‘ oder ‚Stern‘ online zu lesen waren. In nur ganz wenigen Fällen fußen diese Übereinstimmungen erkennbar auf Agenturmeldungen.“

Wortgleiche Absätze und Sätze in einem acht Monate älteren Artikel

In ihren späteren Artikeln soll Alexandra Föderl-Schmid diese mutmaßliche Vorgangsweise beibehalten haben: „Bei sehr vielen Artikeln aus der ‚Süddeutschen‘ wurden ebenfalls bundesdeutsche Medien geplündert“, sagt Weber. Zur Veranschaulichung führt er ein einziges Beispiel an, ein tatsächlich bemerkenswertes.

So befinden sich Textpassagen in Föderl-Schmids „Süddeutsche“-Artikel „Israel. Ein geteiltes Land“ aus dem Jänner 2018 beinahe vollständig textidentisch in dem etwas älteren „Welt“-Artikel „Warum Israels Wirtschaftsboom so wenigen nutzt“ von Frank Stocker vom April 2017.

Der Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“

Die anscheinend nicht genannte Vorlage in der „Welt“

Ein Absatz über den Technologie-Sektor befindet sich beinahe wortident im neun Monate älteren Text.

Alexandra Föderl-Schmid:

Franz Stocker:

Gleiches gilt für einen weiteren Absatz über hohe Kosten in Israel: Auch hier wurde zunächst offenbar ein längerer Satz eins zu eins kopiert, und anschließend weitere Textelemente mehr oder weniger unverändert übernommen.

Alexandra Föderl-Schmid:

Franz Stocker:

Ein schwerwiegender Verdacht, aus mehreren Gründen

Sollte es sich hierbei um ein Muster handeln, das in dieser Form in zahlreichen Artikeln der bisherigen stellvertretenden „Süddeutsche“-Chefredakteurin auftaucht, wäre das in der Tat höchst bedenklich, und zwar aus mehreren Gründen.

Möglicherweise wird nun endlich auch die „Süddeutsche Zeitung“ die bisherigen Artikel der stellvertretenden Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid (Bild) näher unter die Lupe nehmen.APA/HELMUT FOHRINGER

Erstens hat die Promi-Journalistin ihre Quelle nicht erwähnt. Zweitens hat sie ohne Not wortgleiche Formulierungen kopiert, eins zu eins, ohne Anführungszeichen. Drittens wird man hier schwer von Flüchtigkeitsfehlern oder gar Ungeschicklichkeiten einer Jungredakteurin sprechen können. Viertens dienten als Vorlage selbständig verfasste Artikel von Kollegen – nicht Nachrichtenagentur-Meldungen. Fünftens hat Alexandra Föderl-Schmid alle Artikel in der Autorenzeile als ihre eigenen ausgegeben, und somit eine Eigenleistung für sich in Anspruch genommen, die sie nicht erbracht hat. Sechstens: Solche Kopien widersprechen eindeutig journalistischen Qualitätsstandards, die sich aber ausgerechnet „Standard“ und „Süddeutsche Zeitung“ demonstrativ auf ihre Fahne schreiben. Sollten es sich bei den bisher bekannten Plagiaten tatsächlich nicht nur um ein paar Einzelfälle handeln, so wurde hier systematisch gegen elementare Richtlinien verstoßen, über Jahre hinweg, von einer Chef- bzw. stellvertretenden Chefredakteurin.

Stefan Weber fordert Klarheit und Transparenz

Stefan Weber hält fest: „Das hat nun nichts mehr mit bloßer journalistischer Nichtnennung der Quellen zu tun, das berührt jetzt wohl handfest Geschäftsmodelle und Urheberrechte der Mitbewerber. Es stellt sich ja die Frage, warum Ihre Abonnenten für Inhalte bezahlen sollen, die vorher schon genau so bei Mitbewerbern zu lesen waren.“

Stefan Weber sieht die Urheberrechte von Mitbewerbern verletzt.Joachim Bergauer

Der Salzburger Kommunikationswissenschaftler verlangt Klarheit. Er bittet die beiden Chefredakteure, sowie einen stellvertretenden Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ um Beantwortung von fünf Fragen bis Donnerstagabend:

„Ein Plagiatsverdacht ist Ihnen seit 18.12.2023 bekannt. Was haben Sie bisher unternommen?
Werden Sie nunmehr eine Big Data-Plagiatsanalyse aller Texte von Frau Föderl-Schmid machen?
Wenn ja, wie werden Sie methodisch vorgehen?
Wenn ja, werden Sie die Ergebnisse kostenlos veröffentlichen?
Welche Konsequenzen werden Sie aus einem negativen Befund ziehen?“

Wir warten ab.

PS: Plagiatsverdacht erhärtet sich

Auf seinem Blog hat Stefan Weber mittlerweile weitere Belege für Verfehlungen veröffentlicht. So hat Föderl-Schmid offenbar auch von nicht-journalistischen Quellen abgeschrieben, etwa von Wikipedia, wie Weber anhand eines Beispiels dokumentiert:

Der Salzburger Publizist kritisiert: „Eine Qualitätsjournalistin muss erst recht wissen, dass Wikipedia eine freie Lizenzbedingung hat.“ Somit wäre auch hier eine Nennung der Quelle erforderlich gewesen, wie „man heute in Einführungslehrveranstaltungen der Publizistik“ lernt.

Überdies scheint die Chefredakteurin in großem Umfang Agenturmeldungen übernommen zu haben – was im Journalismus zulässig ist. Allerdings hat sie dabei sich selbst als Autorin angegeben – was nicht zulässig ist.

Weber hat bisher 7200 Artikel aus dem „Standard“ und 400 Artikel aus der „Süddeutschen“ gemeinsam mit einer Mitarbeiterin analysiert. „Die ersten Stichproben (mehr ist es noch nicht!) sind ebenso alarmierend.“ Und: „Mittlerweile habe ich von einem Kollegen eine Tabelle erhalten, die noch einmal alle bisherigen Befunde toppen sollte (wird fortgesetzt).“