Der Westen versteht nicht die radikale Religiosität von Bewegungen wie der Hamas, unterstreicht der Historiker Prof. Richard Landes. Der Professor an der Boston University befasste sich jahrzehntelang mit apokalyptischen Bewegungen im Mittelalter. Um die Jahrtausendwende verlagerte sich sein Interesse auf den globalen Dschihadismus und dessen Wahrnehmung im Westen. Terrororganisationen wie die Hamas weckten gezielt Mitgefühl für das Leiden der Palästinenser, indem sie Filmszenen produzieren, die in der Realität so nie stattgefunden haben. Landes prägte dafür den Begriff „Pallywood“. Seit der Zweiten Intifada (2000 bis 2005) übernähmen westliche Journalisten solche Fake News und unterstützten damit maßgeblich den Terror. Die Perspektive auf den Nahostkonflikt sei dadurch völlig verzerrt, kritisiert Landes im ersten Teil eines ausführlichen eXXpress-Interviews. In wenigen Tagen erscheint Teil zwei.

„Es geht um ein Ehrgefühl: Mein Glaube ist bedroht, wenn meine Glaubensbrüder nicht herrschen“

Was hat Sie als Mediävist und Experte für apokalyptische Bewegungen dazu veranlasst, sich mit dem Dschihadismus und der Feindseligkeit gegenüber Israel auseinanderzusetzen?

Feindseligkeit ist ein milder Begriff. Der Dschihadismus ist ein besonders mittelalterliches Phänomen: eine aggressive, imperialistische theokratische Religiosität, die im heiligen Krieg ein Mittel zur Verbreitung des Glaubens sieht. Er ist die Antithese zu allem, was Demokratie möglich macht. Es ist ein klassisches Ehrgefühl: Mein Glaube ist bedroht, wenn ich und meine Glaubensbrüder nicht sichtbar herrschen (Dar al Islam).

Das ist so unvereinbar mit dem demokratischen Empfinden, dass die meisten Menschen im Westen davon keine Vorstellung haben. Sie können auch nicht glauben, dass die meisten Muslime im Nahen Osten dies gutheißen könnten. Obama meinte, dass 99,9 Prozent der Muslime diese mittelalterliche Version ihrer Religion ablehnen. Damit appellierte er an unsere Tendenz, anzunehmen, dass alle anderen genauso sind wie wir. Mediävisten, die diese Mentalität studieren, wissen dagegen: Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, und das gilt auch für den Nahen Osten des 21. Jahrhunderts.

US-Präsident Barack Obama wandte sich am 4. Juni 2009 in der Großen Halle der Kairoer Universität an die islamische Welt.APA/AFP/Mandel NGAN

„Pallywood“-Fälschungen sollen im Westen Sympathien für Dschihadisten wecken

Sie haben den Begriff „Pallywood“ geprägt. Damit bezeichnen Sie von Palästinensern produzierte Videoszenen, die israelische Angriffe auf palästinensische Zivilisten inszenieren. Kritiker sagen: Israel kann nun diesen Begriff verwenden, um jede palästinensische Kritik von vornherein als Fake News abzutun.

Es geht nicht darum, Kritik abzutun, sondern aufzuzeigen, wie die Palästinenser das westliche Mitgefühl manipulieren. Sie tun dies mit gestellten Szenen, die unsere Emotionen ansprechen sollen – „Seht euch unser Leid an! Wie unerträglich!“ – und um Israel anzuklagen – „Seht, wie schrecklich sie sind!“ Wenn Sie mehr über Pallywood wissen wollen, können Sie sich meinen Dokumentarfilm (2005) ansehen.

Es ist ein Schlüsselelement der Kriegsstrategie der Hamas, um den Westen dazu zu bringen, einzugreifen, und Israel daran zu hindern, die Hamas zu besiegen. Die Hamas begrüßt die Zahl der „Märtyrer“, die diese Strategie hervorbringt, und ist bestrebt, ihre Zahl zu erhöhen (d. h. Zivilisten im Gazastreifen, deren Tod die Hamas den israelischen Bomben zuschreiben kann).

Allein die Tatsache, dass hier gefälscht wird, ist schamlos. Der westliche Videojournalismus müsste das eigentlich entlarven. Aber soweit ich weiß, greifen die „Kritiker“ des Pallywood-Konzepts nur die Beispiele von Pallywood-Inszenierungen auf, doch auf die realen Beispiele gehen sie nicht ein. Das ist kein Journalismus, sondern eine Unterstützung der kognitiven Kriegsführung.

Meine Kritiker beschweren sich, dass Pallywood ein abwertender Begriff ist, der die Fähigkeit des Westens beeinträchtige, den Schmerz des palästinensischen Leidens zu empfinden. In Wahrheit geht es um etwas anderes: Die Verfechter der „Alles ist Israels Schuld“-Moral können kein Forum zulassen, in dem ihre Sichtweise kritisiert wird. Sie wollen weiterhin Pallywood-Fälschungen verwenden, um im Westen Sympathien für die Dschihadisten zu wecken. Andererseits stimmt es: „Pallywood“ ist ein abwertender Begriff und eine Aufforderung an die Zuschauer, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob sie getäuscht werden oder nicht. Das untergräbt die palästinensische Erzählung über ihre Misere. Aber warum ist das schlecht? Sollten wir stattdessen die palästinensische Dschihad-Propaganda ganz schlucken?

Wem es wirklich um palästinensische Zivilisten geht, müsste die Hamas zu Verbrechern erklären

Aber leugnen Sie, dass auch Palästinenser unter diesem Konflikt leiden und Opfer ungerechter Gewalt werden – auch von Seiten Israels?

Ich bestreite nicht, dass die Palästinenser in einigen Fällen furchtbar leiden. Aber die Rolle der Hamas bei der Verursachung dieses Leidens scheint mir weitaus beängstigender zu sein als die Kollateralschäden, die durch die israelische Jagd auf die Hamas verursacht werden. Unter den gegebenen Umständen tut Israel alles, um das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung zu begrenzen; die Hamas tut alles, um es zu maximieren. Israel hier die Schuld zu geben, hieße, das Spiel der Hamas mitzuspielen. Das ist in Wahrheit völlig kontraproduktiv, wenn die Rettung der palästinensischen Zivilisten tatsächlich wichtiger sein sollte als die Dämonisierung Israels.

Andererseits ist das Leiden, so schlimm es auch sein mag, kaum „unerträglich… unausstehlich… unhaltbar…“, wie palästinensische Sprecher, „Menschenrechts“-NGOs, die UNO, postkoloniale Akademiker, einige Politiker und israelfeindliche Israelis behaupten. Dabei könnten sie die Hamas zu Verbrechern erklären und darauf bestehen, dass die guten Menschen in Gaza verschont werden. Doch aus schwer zu verstehenden Gründen ziehen sie es vor, dass Israel nur über menschliche Schutzschilder an die Hamas herankommen kann.

Etwa zwei Drittel der UN-Resolutionen richten sich mittlerweile gegen Israel. Auch das einseitige Vorgehen von UN-Generalsekretär António Guterres gegen Israel löst immer mehr Irritation aus.APA/AFP/Andrea RENAULT

„Die Hamas braucht die Hilfe westlicher Medien, um erfolgreich zu sein“

Ich nehme an, Sie meinen damit auch die aktuelle Kritik an Israels Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen?

Unverhältnismäßig ist nicht Israels Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober, sondern die Kritik an Israel. Was Israel seither getan hat, ist nach den Regeln der arabischen politischen Kultur minimal. Hätte die Hamas dieses Massaker in irgendeinem anderen arabischen Land verübt, wäre die Zahl der Todesopfer jetzt ähnlich hoch wie in Syrien. Es wären Hunderttausende. Aber irgendwie schauen dieselben Leute, die wegen Israel in moralische Panik verfallen, weg von dem viel größeren Leid in Syrien, Nigeria, im Sudan, der Uiguren usw.

Die Effektivität von Pallywood ist der Grund dafür, dass der Westen die Situation der Palästinenser für weitaus berichtenswerter und sympathischer hält als die einer halben Million getöteter Syrer und Millionen Vertriebener. Dies wirft eine Frage auf: Warum gibt es einen so großen Markt für palästinensisches Leiden durch Israel, dass eine ganze Industrie existiert, um diese Nachfrage zu befriedigen, und warum herrscht so große Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden in anderen Ländern, sogar gegenüber jenem, das Palästinensern von Arabern zugeführt wird?

Die Kriegsstrategie der Hamas zielt darauf ab, dass möglichst viele ihrer eigenen Leute durch die Hand der Israelis sterben. Deshalb bauen sie unterirdische Bunker für Bomben, nicht für Menschen. Deshalb lassen sie die Menschen nicht aus den Kriegsgebieten heraus. Deshalb geben sie Israel die Schuld, wenn ihre Raketen ihre eigenen Kinder töten. Die Hamas zählt auf das fehlgeleitete Mitleid des Westens.

Eines steht fest: Um erfolgreich zu sein, braucht diese Strategie die Hilfe der westlichen Nachrichtenmedien, um das Mitgefühl der Menschen zu manipulieren. Zweitens: Solange die Hamas nicht für das Leiden ihres Volkes zur Rechenschaft gezogen wird, wird die Strategie, Zivilisten für „die [antizionistische] Sache“ zu opfern, nicht aufhören. Drittens wird sich nichts ändern, solange die Nachrichtenmedien weiterhin Pallywood übernehmen.

Der Terror der Hamas lebt maßgeblich von Propaganda und von der Unterstützung durch westliche Medien, sagt Prof. Richard Landes.

In Israel könnte man niemals solche Lügenmärchen produzieren

Sehen Sie Propagandalügen nur auf der palästinensischen Seite oder auch bei Israel?

Die Frage stellt die Situation falsch dar. Israel hat eine der selbstkritischsten Nachrichtenmedien der Welt. Mit pro-israelischen Manövern à la Pallywood könnte man dort nicht durchkommen. Es könnte niemals einen offenen Schauplatz geben, an dem Israelis, Journalisten und Kameraleute Fälschungen herstellen. Das Krankenhauspersonal könnte niemals mit den Medien zusammenarbeiten und diese anlügen. Das würde sofort auffliegen. Israelische Journalisten sind sehr selbstkritisch und berichten gerne über Dinge, die ihre Seite schlecht aussehen lassen; die meisten von ihnen haben die Erzählung von Al-Durrah als „100 Prozent wahr“ übernommen. (Anmerkung: Demnach wurde im Jahr der palästinensische Bub Muhammad al-Durrah von israelischen Soldaten während Protesten im Gazastreifen getötet.) In den palästinensischen Gebieten hingegen ist dies ein weit verbreitetes Straßentheater.

Der zwölfjährige Bub Muhammad Al-Durrah wurde nach seinem Begräbnis im Jahr 2000 von zahlreichen Muslimen als Märtyrer verehrt. Die Behauptung: Israelische Soldaten hätten ihn während der Zweiten Intifada erschossen, als er sich hinter seinem Vater versteckte.

Versucht Israel, die Medien zu manipulieren, gelegentlich durch Desinformation? Ja, und vermutlich häufiger in Kriegszeiten. Doch es gibt keine offene Täuschung, wie bei der palästinensischen Klageerzählung – die übrigens auf Englisch etwas ganz anderes sagt als auf auf Arabisch.

„Israel übernimmt mehr Verantwortung als es sollte“

Kriegspropaganda ist überall Teil der Kriegsführung. Im Ukraine-Krieg wird sie von beiden Seiten produziert. Ist die palästinensische Propaganda wirklich so skandalös?

Jeder, der Krieg führt, kämpft auf dem kognitiven Kriegsschauplatz. Manches davon ist klassisch: „Mach Patrioten aus ‚uns‘ und Dämonen aus ‚ihnen‘“; einiges ist psychologische Kriegsführung, einiges ist Desinformationskriegsführung. Allerdings sind die israelischen Veröffentlichungen – die offiziellen, und ebenso jene israelischer Journalisten und Think-Tanks – weitaus zuverlässiger als die palästinensischen Quellen. In vielen Fällen, wie bei Al-Durrah und in Jenin, übernimmt Israel mehr Verantwortung als es sollte. In Jenin sprachen die Palästinenser von 500 bis 1000 Toten, die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) von 100, die endgültige Untersuchung kam auf 52 bis 56. Die Israelis übernahmen die Verantwortung für die Tötung von Muhammad al-Durrah (nicht absichtlich, aber so hat es jeder gelesen), obwohl überhaupt nicht klar ist, dass al-Durrah vor laufender Kamera getötet wurde.

Die palästinensische Propaganda ist skandalös und einzigartig. Erstens besteht sie aus billigen Fälschungen, die jedem kritischen Auge auffallen sollten. Zweitens wird sie von westlichen Nachrichtenmedien in großem Umfang verwendet, obwohl dies gegen jeden Grundsatz des Journalismus verstößt. Drittens hat sie eindeutig schädliche Auswirkungen auf die westliche Kultur, die nun Anzeichen eines neuen Judenhasses zeigt, verbunden mit tiefgreifenden Störungen im demokratischen Gemeinwesen.

Jänner 2010: Junge Palästinenser nehmen an einer Hamas-Kundgebung in Khan Yunis im südlichen Gazastreifen teil, bei der die Familien der „Märtyrer“ des letzten Krieges mit Israel geehrt werden.APA/AFP/SAID KHATIB

„Eigentlich wäre es die Aufgabe der Journalisten, die zweifelhaftesten Behauptungen herauszufiltern“

Sie versuchen, die Propagandalügen der Gegner Israels zu entlarven. Kann die Wahrheit immer ermittelt werden?

Nein. Und ich vermeide eigentlich die Art von genauer Analyse, die ich bei al-Durrah gemacht habe. Diese Dinge sind sehr schwer zu beurteilen. Es scheint allerdings ziemlich klar zu sein:  Nichts, abgesehen von der Macht der Suggestion, unterstützt die gängige Erzählung von Israels absichtlicher Tötung. Praktisch alle Beweise sprechen für eine „inszenierte“ Version.

Indoktrination von klein auf: Palästinensische Jugendliche verkleiden als Selbstmord-AttentäterCourtney Kealy/Getty Images

Aber es wäre Aufgabe der Journalisten, die zweifelhaftesten Behauptungen der einen oder der anderen Seite herauszufiltern. Pallywood ist ein Kinderspiel. Als ich den Orientalisten Enderlin auf die Inszenierung aufmerksam machte, bemerkte er: „Oh ja, das machen sie die ganze Zeit, das ist eine kulturelle Sache.“ Aber er und Bob Simon und zahlreiche weitere Nachrichtenproduzenten hatte im Jahr 2000 kein Problem damit. Im Gegenteil, sie sind davon fasziniert.

„Jede Gaza-Kampagne ist voll von aufgebauschten Tragödien“

Können Sie andere einflussreiche Beispiele für ziemlich eindeutige Fake News seit der Zweiten Intifada nennen?

Offensichtlich die beiden, mit denen ich mich in Kapitel eins und drei meines Buches beschäftige, neben dem „Mord“ an Al-Durrah das „Massaker“ von Jenin. Aber jedes Mal, wenn Israel in einen offenen Krieg mit seinen Feinden verwickelt ist, werden die arabischen Kämpfer – im Gazastreifen, im Westjordanland, im Libanon – eine Menge Kriegspropaganda verbreiten, die manchmal eine ganze israelische Kampagne zum Stillstand bringt, sobald die „Nachrichten“ einschlagen. Man denke nur an Gaza Beach (2005), Kafr Qana (2006 Libanon), Al Faqura (2009 Gaza) und das Shati-Flüchtlingslager (2014 Gaza)

Jede Gaza-Kampagne ist voll von solchen aufgebauschten Tragödien, einige sind reine Erfindungen, andere übertriebene, manipulierte Desinformation oder falsche Anschuldigungen. Jedes Mal soll der Westen davon überzeugt werden, dass das palästinensische Volk so sehr leidet – „humanitäre Krise“ – und Israel so schrecklich ist – „Völkermord“. Und irgendwie funktioniert diese Propaganda immer wieder.

Prof. Richard Allen Landes, Jahrgang 1949, ist ein amerikanischer Historiker und Autor. Er studierte an der Princeton University und war bis 2015 Professor für Geschichte an der Boston University. Seit 2015 ist er Senior Fellow am Zentrum für internationale Kommunikation der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan, Israel.

Seine Forschung konzentrierte sich zunächst auf apokalyptische Überzeugungen im Mittelalter rund um das Jahr 1000. Seit mehr als 20 Jahren befasst sich Prof. Landes zunehmend mit zeitgenössischen religiösen Bewegungen, vor allem mit dem Globalen Dschihad und der Reaktion darauf. In seiner Arbeit analysiert er Manipulationen in den Medien, vor allem im Zusammenhang mit dem Nahen Osten und mit Israel.

Landes prägte den Begriff „Pallywood“, um Film-Inszenierungen von Palästinensern zu beschreiben, die Eingang in westliche Medienberichte finden. In seinem Blog „The Augean Stables“ zeigt er auf, wie westliche Nachrichtenmedien den Dschihad anheizen, insbesondere durch ihre Berichterstattung über den Nahostkonflikt.

Im November 2022 erschien Landes’ Buch „Can ‘The Whole World’ Be Wrong?: Lethal Journalism, Antisemitism, and Global Jihad (Antisemitism in America)”.