Werden die inneren Probleme des Sozialismus bis heute zu wenig verstanden?

Ja, das war zum Beispiel auch bei der Regierung Kohl so. Im Wiedervereinigungsprozess hat sie westdeutsche Manager in östliche Betriebe geschickt. Das hat aber die Probleme nicht gelöst. Die Manager in Ostdeutschland waren genauso fähig, sie hatten nur das falsche System. Es fehlte ein marktwirtschaftlicher Prozess, damit sich herausstellte, welcher Unternehmer am besten ist. Eine staatliche Behörde kann das nicht entscheiden.

Auch heute glauben viele, dass der öffentliche Sektor besser funktioniert mit besseren Managern. Die Privatwirtschaft ist aber viel dynamischer. Das hat mit dem Wissensprozess zu tun: Im öffentlichen Sektor gibt es keine Konkurrenz und daher auch keine Konkurrenten, von denen man lernen kann. Das Hauptproblem ist meiner Meinung nach das Wissenssystem des Sozialismus.

Wettbewerb beugt Machtkonzentration vor

Manche Intellektuelle wie George Orwell kritisierten den realen Sozialismus, träumten aber wie von einem demokratischen Sozialismus.

Bei Orwell wird eine noble Revolution verraten, weil die Herrscher durch Macht korrumpiert werden. Es fehlt an ökonomischen Büchern, die aufzeigen, warum der Sozialismus im Totalitären ausartet. Der Sozialismus ist nicht freiheitskompatibel. Der deutsche Rechtswissenschaftler Franz Böhm hat gesagt: Wettbewerb ist das genialste Entmachtungsinstrument, das je erfunden wurde. Niemand hat die absolute Macht, wenn ich als Konsument, Arbeiter oder Kreditnehmer woandershin gehen kann. Das beugt der Machtkonzentration vor.

George Orwell war ein brillanter Kritiker des realen Sozialismus, glaubte aber noch an einen demokratischen.

Der Staat als dominierender Akteur im Wirtschaftsleben hat keine Konkurrenten. Das führt zu Machtkonzentration, und daran ändert sich auch nichts, wenn seine überbordende Machtkonzentration demokratisch gestaltet ist. Ebenso passt auch Planwirtschaft schlecht zu individueller Freiheit, selbst wenn der Plan von der Mehrheit festgelegt wird. Um einen Wirtschaftsplan umzusetzen, müsste man die Menschen dazu zwingen, diesen Plan einzuhalten. Man kann ihnen dann nicht mehr sagen: Wenn Ihr wollt, könnte Ihr etwas anderes machen. Es gibt keinen Platz für Abweichler.

Kristian Niemietz arbeitet am Londoner Institut für Economic Affairs und befasst sich schon lange mit dem Sozialismus und seinen Vertretern.Kristian Niemietz

Ausreiseverbote gab es im Sozialismus immer

Einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz halten Sie nicht für möglich?

Planwirtschaft mündet nicht zwingend in Massenmord wie unter Stalin. Nach Stalins Tod besserte sich die Situation. Aber die Sowjetunion blieb noch immer meilenweit von dem entfernt, was sich romantische Sozialisten ausmalen. Das ist den systemimmanenten Faktoren des Sozialismus geschuldet. Chruschtschow konnte ein bisschen liberalisieren, aber Reise- oder gar Emigrationsfreiheit gab es auch bei ihm nicht. Um zu planen, musste er die Produktionsfaktoren kontrollieren können, auch die Arbeitskraft. Ein Arbeiter konnte nicht einfach das Land verlassen. Selbst in den mildesten Formen des Sozialismus gab es fast immer Ausreiseverbote.

In der DDR gab es Versuche, zentrale Kontrolle abzumildern, aber wenn man keine Marktsignale mehr hat, bleiben nur Befehl und Gehorsam, sofern man nicht in das Chaos schlittern will. Dezentralisierungsversuche schwächten die zentrale Kontrolle, nur wurde sie nicht durch Marktmechanismen ersetzt. Alles wurde chaotisch, also griff der Staat wieder ein.

Karl Marx: Sozialistische Herrscher folgten in vielem der marxistischen Logik.

Muss Sozialismus immer staatliche Enteignung bedeuten?

Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft war gemäß marxistischer Logik folgerichtig. Stalin konnte privates Unternehmertum nicht zulassen. Er musste fürchten, dass die Kulaken – die wohlhabenden Bauern – politisch zu mächtig würden. Josef Stalin brachte Menschen nicht einfach deshalb um, weil er schlecht drauf war.

Im Kern hat Sozialismus immer die Kollektivierung von Produktionsmitteln bedeutet – und das geht nur staatlich. Manche Sozialisten sagen: Arbeiter könnten das auch kooperativ tun und as ließe sich direktdemokratisch verwalten. Doch ein Mechanismus dafür wurde noch nicht entwickelt. Wie soll das in einem Land wie Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern funktionieren? Wie kann man das gemeinsam verwalten?

Mit Sozialismus in kleinen Gruppen, wie in Kibbuzim, habe ich kein Problem. Aber das ist was anderes.

Marx beschrieb nie die sozialistische Gesellschaft

Marx befasste sich noch kaum mit der Darstellung der sozialistischen Gesellschaft befasst. Er meinte, eine dialektische Entwicklung mündet notwendigerweise im Sozialismus.

Marx sah sich nie veranlasst, die Institutionen einer sozialistischen Gesellschaft zu beschreiben. Er preiste nicht ein Gesellschaftsmodell an. Für ihn waren Kapitalismus und Sozialismus nicht alternative Modelle. Der Kapitalismus war für ihn das Sprungbrett zum Sozialismus.

Das hat sich geändert.

Moderne Sozialisten argumentieren sehr abstrakt. Demokratisierung der Wirtschaft, das Volk wird entscheiden – aber wie soll das konkret aussehen? Wie will man bei 83 Millionen Menschen demokratisch bestimmen, wie viel Bier bestellt und wie viel Stahl produziert wird? Wenn man alles umstürzen will um zu sehen, wie es anders funktioniert, sollte man zumindest eine grobe Idee von dem haben, was nachher kommt. Interessant, dass Sozialisten heute mit abstrakten Phrasen und Plattitüden durchkommen.