Warum findet der Sozialismus unter Intellektuellen so viele Anhänger?

Intellektuelle sind besser darin, Rechtfertigungen für das, was sie glauben möchten, zu finden. Wenn man sich historische Beispiele ansieht – BRD versus DDR, Taiwan versus China unter Mao Zedong, Nordkorea versus Südkorea – dann ist das Modell mit wirtschaftlichen Freiheiten dem sozialistischen Modell permanent überlegen. Gerade diese Einfachheit schreckt einige Intellektuelle ab. Sie denken, mit mehr Scharfsinn kann man erkennen, was nicht jeder auf den ersten Blick sieht. Was sich jeder beliebige Mensch genauso gut denken könnte, schreckt intellektuelle Menschen ab. Darüber hinaus benützen sie politische Meinungen gerne als Statussymbol. Es geht nicht darum, die Welt zu verstehen, sondern mit Meinungen etwas über sich auszusagen.

Einstellung zum Sozialismus als Intelligenztest

Woher kommt diese Angst vor der Einfachheit?

Es braucht nicht viel Können um zu erkennen, dass der Sozialismus gescheitert ist, sobald man sich die Fakten vergegenwärtigt. Es erfordert Raffiniertheit und rhetorisches Können, eine Idee, die immer wieder scheitert, zu rechtfertigen. Es scheint dann nur mehr so, als sei der Sozialismus gescheitert, in Wahrheit ist er überlegen. Es erfordert auch ein Abstraktionsvermögen um Idee und Ausführung voneinander zu trennen. Viele Intellektuelle sehen die Einstellung zum Sozialismus vermutlich als Intelligenztest. Sie bewerten den Sozialismus nicht nach seinen Resultaten, sondern nach seinen ursprünglichen Intentionen. Die Selbstwahrnehmung dahinter: Wir sind schlauer. Darin zeigt sich auch ein Statusdenken.

Meine Antwort: Wenn mir jemand sagt: 2 und 2 ist 4, dann antworte ich auch nicht: Das könnte auch jemand mit eine Pflichtschulabschluss sagen.

US-Senator Bernie Sanders verkörperte lange Zeit in den USA die neue Welle des SozialismusAPA/AFP/NICHOLAS KAMM

Der Sozialismus ist wieder in Mode, siehe „Millennial Socialism“. Warum?

Die Trends kommen in Wellen. In den 1930er Jahren war er in der englischsprachigen Welt und Frankreich unglaublich beliebt, zu Beginn des Kalten Kriegs wieder weniger, bis sich 1968 viele neuerlich für den Sozialismus begeisterten und das Maoistische China und Kuba idealisierten. In den 1990er Jahre kam die nächste Flaute, weil der Sozialismus überall gescheitert war. Heute gibt es wieder eine Hochphase. Das Image des Sozialismus hat sich geändert. Man denkt bei Sozialisten nicht mehr an verschrobene, schräge Splittergruppen. Der Sozialismus wirkt cool, er wurde ein Lifestlye, gerade in Vierteln mit vielen Hipster-Bars ist er sehr verbreitet.

Das Sozialismus-Revival hat Wirtschaftsliberale überfordert

Inspirierte Sie das zu Ihrem Buch?

Ja, es war eine Reaktion auf das Sozialismus-Revival, zu dem etwa Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und Alexandria Ocasio-Cortez beigetragen haben. Umfragen belegen: Der Sozialismus ist nicht verschwunden, vor allem bei jungen Leuten. Was mich gestört hat: Wirtschaftsliberale haben nicht richtig darauf reagiert. Die waren völlig überfordert, weil sie lange Zeit keinen Anlass sahen, gegen den Sozialismus zu argumentieren. Also begann ich Beiträge für verschiedene Online-Medien zu verfassen und erntete auf einmal viel mehr Resonanz als früher.

Die US-amerikanische Politikerin der Demokratischen Partei, Alexandria Ocasio-Cortez, bezeichnet sich als demokratische SozialistinAPA/AFP/Robyn Beck

In Ihrem Buch stellen Sie dieses Muster im Umgang mit sozialistischen Experimenten vor: erst Begeisterung, dann defensive Rechtfertigung, zuletzt Verleugnung.

Bei Venezuela war die Euphorie noch nicht ganz verflogen, als ich mit dem Schreiben des Buches begann. 2005 bis 2013 herrschten Flitterwochen, dann begannen die Ablenkungsmanöver mit „Schaut mal nach Saudi-Arabien“ oder „Schon vor Chavez gab es die Probleme“. Wenn das so weitergeht, dachte ich damals, werden die in wenigen Wochen sagen: Venezuela war nie sozialistisch. Genauso ist es dann gekommen. In meinem ersten Buchentwurf hatte ich das noch prognostiziert, und dann ist es eingetreten.

Jeremy Corbyn sorgte als Chef der Labour Partei mit sozialistischer Propaganda für Aufsehen. Seine Wahlniederlage beendete den Hype in Großbritannien – vorerstAPA/AFP/Tolga AKMEN

Bei Konsumgütern scheitern Planwirtschaften

Warum gingen selbst prominente Ökonomen dem Sozialismus auf den Leim oder hielten ihn zumindest für ebenso effizient wie die freie Marktwirtschaft? 

Die neoklassische Ökonomie ist sehr mathematisch, es geht um Maximierung. Auf dieser Basis kann man eine Planwirtschaft ableiten. Die meisten Ökonomen waren nicht von der Planwirtschaft begeistert, aber sie haben den Sozialismus, wie zum Beispiel Paul Samuelson, überschätzt, vor allem in den 1950er Jahren mit Blick auf die damaligen Wachstumsraten der Sowjetunion.

Wenn man sich nur auf Kohle-, Stahl- und Eisenproduktion konzentriert, und sich für die militärische Produktion und eine Maximierung des Outputs interessiert, dann kann das bis zu einem gewissen Grad im Sozialismus funktionieren, vor allem, wenn man, wie die Sowjetunion, die kapitalistische Produktionsweise kopiert. Zunächst hat ja die Sowjetunion mit den staatlichen Enteignungen von Getreide den Import westlicher Industrien finanziert. In gewissen Sektoren war die Sowjetunion ein wichtiger Faktor im Zweiten Weltkrieg. Nur: Den Menschen in der Sowjetunion hat das nichts gebracht. An der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen sind alle Planwirtschaften gescheitert, selbst in ihren besten Zeiten. Das ist es aber, was mich als Konsument im Alltag interessiert. Auch der Faktor des Unternehmertums wurde von einigen Ökonomen unterbewertet.

Im zweiten Teil des Interviews nennt Kristian Niemietz die Gründe, weshalb der Sozialismus nicht freiheitskompatibel ist und permanent scheitert.