Die israelische Regierung will die Hamas im Gazastreifen militärisch besiegen und ihre Herrschaft endgültig beenden. Halten Sie das für richtig?

Natürlich. Wobei ich denke, dass noch andere Probleme entstanden sind. Die Abschreckungskraft Israels wurde schwer beeinträchtigt. Im Moment weiß ich nicht, wer im Nahen Osten von uns Angst hat. Wir müssen zurückschlagen. Darüber hinaus müssen wir den Bund zwischen dem Volk Israel und dem Staat Israel wiederherstellen. Gemäß diesem Bund muss der Staat das Volk beschützen, und das hat er nicht getan. Wir müssen jetzt viele Dinge tun, die von der Welt möglicherweise nicht verstanden werden. Viele Medien in den USA, insbesondere die „New York Times“, haben geschrieben, dass Israel nicht in den Gazastreifen einmarschieren sollte. Sie verstehen unser Land und unsere Nachbarschaft nicht.

„Es gab ein elementares Staatsversagen“

Muss Israel seinen Bürgern wieder ein Gefühl von Sicherheit zurückgeben, das sie verloren haben?

Es geht nicht nur um Sicherheit, sondern auch um den Glauben an den Staat, der für die Bürger da ist. Hier gab es ein allgemeines Versagen, ein Sicherheitsversagen, ein soziales Versagen. Tage vergingen, bis der Staat die Familien der gefangenen Menschen kontaktierte. Ich hatte vor einer Woche ein außergewöhnliches Erlebnis. Ich war bei einer der betroffenen Familien auf Besuch, deren Tochter Mia Shem als Geisel gefangen genommen worden ist. Der Familie ging es nicht gut. Aber niemand von der Regierung war erschienen. Einen Tag später veröffentlichte Hamas ein Video von einer Geisel – und es war Mia Schem. Jeder kennt mittlerweile solche betroffenen Familien.

Einige übten scharfe Kritik an Ministerpräsident Netanjahu. Wird seine politische Karriere nach Beendigung dieses Krieges vorbei sein?

Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich niemandem die Schuld geben. Es war sehr interessant, dass der Chef Inlandsgeheimdienstes Shin Bet die Verantwortung übernommen und gesagt hat: Es war meine Schuld. Ich gehe davon aus, dass es in Israel nach diesem Krieg eine tiefgreifende staatliche Untersuchung geben wird und einige Menschen ihre persönliche Verantwortung werden übernehmen müssen.

„Hamas wäre noch gewalttätiger geworden, wenn wir Frieden geschlossen hätten“

Viele Israelis halten im Rückblick den Abzug aus dem Gazastreifen, den Abbau aller Siedlungen unter Ministerpräsident Ariel Scharon und den Friedensvertrag von Oslo für einen Fehler. Teilen Sie diese Meinung?

Es ist schwierig. Ich habe als Soldat viel Zeit in Gaza verbracht. Wir wurden dort oft von der Hamas angegriffen. Natürlich hätte die Hamas keinen Terror-Staat gegründet, wenn wir dort geblieben wären. Allerdings ist es sehr einfach, im Rückblick zu sagen, dass wir einen Fehler gemacht haben und alles ansonsten anders gelaufen wäre. Ich persönlich hatte vor allem ein Problem mit der Art und Weise, wie die Ablösung des Gazastreifens durchgeführt wurde. Aber es grundsätzlich ein Fehler war: Ich weiß es nicht.

Teile der jüdischen Gemeinschaft in den USA haben in der Vergangenheit ebenfalls Israel oft kritisiert. Werden die jüngsten Geschehnisse einen Stimmungswandel auslösen? Wird es mehr Verständnis für Israels Sicherheitsinteressen geben?

Ich weiß nicht, ob es eine dauerhafte Änderung geben wird. Es gibt eine Reaktion der Solidarität und das ist gut. Die jüdische Gemeinschaft in den USA ist in politischer Hinsicht gespalten. Teile behaupten fälschlicherweise: Weil wir nicht genug für den Frieden mit den Palästinensern getan haben, sei dieser Angriff geschehen. Tatsächlich wäre Hamas noch stärker und gewalttätiger geworden, als wir es uns überhaupt vorstellen können, wenn wir versucht hätten, Frieden mit den Palästinensern zu schließen.

Ein israelischer Soldat zeigt der Presse eine von der Hamas hergestellte Panzerfaust.Amir Levy/Getty Images

„Eine bestimmte Anzahl getöteter Juden verschafft uns eine gewisse Zeit der Empathie“

Nach dem anfänglichen Schock über die Ereignisse mehrten sich wieder kritische Stimmen über Israel, unter ihnen die Vereinten Nationen. Gelingt es Israel, seine Situation zu erklären?

Ich weiß, wie die Presse funktioniert. Ich weiß, wie die Meinung über Israel funktioniert. Um es auf die zynischste Weise auszudrücken: Eine bestimmte Anzahl ermordeter Juden verschafft uns eine gewisse Zeit der Empathie. Diese Empathie könnte angesichts der Bilder von palästinensischen Flüchtlingen, die nun obdachlos sind, schwinden, zuerst in Europa, dann in den Vereinigten Staaten. Ich bin mir dessen bewusst und weiß: Die Zeit des Mitgefühls mit Israel läuft ab. Es wird schwinden.

Israel verfolgt nun mehrere Ziele: die Rückholung der Geiseln, den Sieg über die Hamas. Was sind die wichtigsten Ziele?

Wir müssen die Bedrohung durch die Hamas beseitigen, unsere Geiseln zurückholen, und überdies die Sicherheit, unsere Abschreckungskraft und den Bund zwischen dem Volk Israel und dem Staat Israel wiederherstellen. Aber am wichtigsten ist es, Hamas zu stürzen und zu entwurzeln, damit Hamas diese Art von Bedrohung nicht mehr darstellen kann und die Kontrolle über den Gazastreifen verliert. Zu diesem Zweck wird eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und unseren arabischen Verbündeten erforderlich sein. Vielleicht könnte eine arabische Truppe mit finanzieller und militärischer Unterstützung der USA eine Zeit lang den Gazastreifen übernehmen.

Bilder von Zerstörungen und toten Menschen im Gazastreifen werden Israel wieder Sympathie kosten. Dessen ist sich Michael Oren sicher.Ahmed Zakot/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

„Die Menschen im Nahen Osten mögen Stärke“

Wie wirkt sich der Krieg auf Israels Beziehung zu den arabischen Staaten aus? Saudi-Arabien hat die Gespräche mit Israel beendet.

Sie liegen vorerst auf Eis, werden aber sehr schnell wieder beginnen, wenn wir siegen und Stärke zeigen. Das mögen die Menschen im Nahen Osten: Stärke.

Saudi-Arabien und die VAE betrachten die Muslimbruderschaft als große Bedrohung. Eigentlich sollten sie Israels Kampf gegen den palästinensischen Zweig der Muslimbrüder – die Hamas – unterstützen, sollte man meinen?

Ja, aber sie bedienen auch die öffentliche Meinung, die sehr sensibel auf die palästinensische Frage reagiert. Die saudische Reaktion war meiner Meinung nach enttäuschend, weil ich mehr Mitgefühl erwartet hatte, aber das gab es eben nicht.

Israels Gespräche mit Saudi-Arabien wurden unterbrochen, aber nicht beendet. Im Bild: Prinz Mohammed bin Salman, der Premierminister Saudi-Arabiens.APA/AFP/SPA

„Aus Israels Sicht gib es in Gaza eine Terrorgesellschaft, nicht nur eine Terrororganisation“

Umfragen zufolge wächst zwar im Gazastreifen die Unzufriedenheit mit der Hamas, dennoch genießt diese Terrororganisation weiterhin große Sympathie, noch beliebter ist der „Islamische Dschihad in Palästina“. Wie will Israel damit umgehen?

Die Israelis betrachten die Palästinenser nicht als unschuldige Zivilisten. Ich muss gestehen, dass sich die öffentliche Meinung Israels hier fast vollständig einig ist. Aus Sicht der Israelis haben die Palästinenser für die Hamas gestimmt und sie unterstützt. Sie jubelten, als unsere Bürger abgeschlachtet wurden. Viele Hunderte, vielleicht sogar Tausende Palästinenser, die der Hamas nicht angehören, durchbrachen den Zaun und beteiligten sich an den Massakern. Viele unserer Geiseln werden nicht von der Hamas festgehalten, sondern von palästinensischen Familien.

Tatsächlich? Es hieß, die Hamas hat die Geiseln entführt, die sich nun möglicherweise in den Tunneln unter dem Gazastreifen befinden.

Ja, aber das sind die Geiseln in den Händen der Hamas. Es gibt auch Geiseln in den Händen von Einzelpersonen und Familien, die sie verkaufen werden. Für Israel ist das eine Terrorgesellschaft, nicht nur eine Terrororganisation. Nun, die Welt sieht das nicht so, aber es ist beinahe israelischer Konsens. Es gibt einfach keine Sympathie mehr für die Palästinenser, selbst unter israelischen Linken, interessanterweise.

„Wir können nicht zulassen, dass Hamas Geiseln als Schutzschilde nutzt“

Unter anderen Umständen würde man mit Geiselnehmern verhandeln – aber für Israel ist das zurzeit keine Option?

Nein, ist es nicht. Es ist grausam für uns und sehr, sehr schwierig. Aber wir haben keine andere Wahl. Wir können nicht zulassen, dass die Hamas diese armen Israelis als menschliche Schutzschilde nutzt. Sie benutzen die palästinensische Bevölkerung als menschliche Schutzschilde. Warum sollten sie jüdische Geiseln nicht als menschliches Schutzschild verwenden?

Wie will Israel mit dem Geheimapparat der Hamas umgehen? Selbst wenn man die Hamas militärisch besiegt, werden die Mitglieder im Verborgenen weiterarbeiten.

Es hat auch viele Jahre gedauert, Deutschland zu entnazifizieren. Es wird Jahre dauern, die Hamas aus Gaza zu entfernen. Es ist kein Projekt, das in einer Woche abgeschlossen sein wird.

„Österreich und Europa sind für uns wichtig!“

Ist Europa jetzt für Israel wichtig? Ist Österreich von Bedeutung?

Ja, Ihr seid wichtig. Österreich und Europa stehen an unserer Seite. Die kommenden Tage und Wochen werden sehr anstrengend und herausfordernd sein. Uns erwartet ein zermürbender Krieg, aber wir sind entschlossen, ihn zu führen. Das muss Europa verstehen. Dies ist kein Krieg zwischen Israel und der Hamas. Dies ist ein Krieg zwischen der Zivilisation und den dunkelsten und bösesten Mächten, die man sich überhaupt vorstellen. Es gibt keinen Unterschied zwischen Hamas, IS, Hisbollah und Al-Kaida. Sie sind alle genau gleich. Und wir stehen an vorderster Front und Europa sollte das bewusst sein.

Michael Oren wurde 1955 in New York geboren. Nach dem Studium an der Columbia University und der Princeton University wanderte er 1979 nach Israel aus. Im Juli 2009 wurde er zum israelischen Botschafter in den Vereinigten Staaten ernannt und verblieb in diesem Amt bis 2013. Von 2015 bis 2019 war er Knesset-Abgeordneter für die Kulanu-Partei, die der politischen Mitte zugerechnet wird. Er verfasste mehrere Bestseller und Standardwerke über die Geschichte Israels und den Nahen Osten.