Das Weiße Haus soll umdenken und auf der Stelle das Gespräch mit Moskau suchen. Überdies müsse es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Ausstiegsszenario im Ukraine-Krieg anbieten, bei dem er nicht als Verlierer zurückbleibt. Das fordert der ranghohe US- Sicherheitsberater und Russland-Experte Peter Schroeder im renommierten US-Magazin Foreign Affairs. Es drohe nämlich andernfalls ein Überraschungsangriff mit Atomwaffen. Die jetzigen US-Beamten seien sich dessen nicht bewusst, warnt er.

Joe Biden (l.) und Wolodymyr Selenlskyj (r.): Momentan stockt die Hilfe für Kiew. Doch das kann sich ändern. US-Beamte sollten daher viel mehr das Gespräch mit ihren russischen Ansprechpartnern suchen.Paul Ellis - Pool/Getty Images

Peter Schroeder ist ein maßgeblicher US-Experte für russische Außen- und Sicherheitspolitik. Er hatte mehr als zwei Jahrzehnte lang verschiedene leitende Funktionen bei den Nachrichtendiensten der USA inne. Von 2018 bis 2022 war er stellvertretender Hauptnachrichtenoffizier für Russland und Eurasien beim National Intelligence Council und war überdies leitender Analyst bei der CIA. Er arbeitet zurzeit für den Think-Tank Center for a New American Security mit Sitz in Washington. Seine dramatischen Worten und seine scharfe Kritik lassen aufhorchen.

Taktische Atomwaffen in der Ukraine extrem unwahrscheinlich

Offizielle Stellen in den USA „scheinen nicht zu glauben, dass der Krieg in der Ukraine dazu führen könnte, dass Russland sein Atomwaffenarsenal gegen einen NATO-Staat einsetzt, egal wie wütend er auf den Westen wegen der Unterstützung der Ukraine ist.“ Das sei falsch: „Die US-Beamten haben sich geirrt“, warnt Schroeder. Die „wachsende Selbstzufriedenheit unter US-Beamten beruht auf einem Missverständnis von Putins Rhetorik und der Dynamik, die Moskau davon abhält, Atomwaffen einzusetzen.“

Mehr als nur Rhetorik? Abgesehen von Putin (r.) warnen auch seinen Vertrauten wie etwa der stellvertretende Leiter von Russlands Sicherheitsrat Dmitri Medwedew den Westen vor einer nuklearen Eskalation.Mikhail Svetlov/Getty Images

Bei Putins Drohgebärden hätten man immer nur an den möglichen Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Ukraine gedacht. Tatsächlich würden solche Waffen Putin aber kaum helfen, etwa wenn es darum geht, einen Durchbruch an der Front zu erreichen. Internationale Partner wie China und Indien würden sich vom ihm abwenden, kurz: „Für Putin gibt es wenig zu gewinnen, wenn er in der Ukraine Atomwaffen einsetzt, aber viel zu verlieren.“

Wenn die Zeit Putin nicht (mehr) in die Hände spielt, wächst das Eskalationsrisiko

Anders sei die Lage mit Blick auf einen möglichen Atom-Anschlag auf einen NATO-Staat. Das wäre für Putin sehr wohl eine Option, sofern ihm der jetzige Abnützungskrieg nicht den gewünschten Erfolg bringen sollte und die Wirtschaftssanktionen dem Land doch noch schwerer zusetzen sollten. Momentan sei Russlands Präsident überzeugt, die Ukraine auf dem Schlachtfeld mit konventionellen Mitteln zu besiegen. Doch das könnte sich ändern.

Putin hat seit der Ukraine-Invasion bereits einschüchternde Gesten gesetzt und etwa einen Teil seiner Atomwaffen nach Weißrussland verlegt. Im Bild: Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko.APA/DPA

Peter Schroeder: „Putin mag nicht immer so denken. Wenn sich der Westen erneut und nachdrücklich verpflichtet, Kiew bei der Rückeroberung aller besetzten Gebiete zu unterstützen, und der Ukraine langfristige finanzielle Hilfe und eine gestärkte Verteidigungsindustrie bietet, könnte Putin zu dem Schluss kommen, dass er die Ukraine nicht durch einen Zermürbungskrieg zermürben kann.“ Wirtschaftliche Engpässe könnten seine Lage zusätzlich verschärfen. „Der russische Präsident könnte beschließen, einen neuen Anlauf zu nehmen, anstatt die Ukraine auszusitzen. Dann würden die wahren Eskalationsrisiken beginnen.“

Wenn Washington auf Erstschlag zurückschlägt, droht Zerstörung der Welt

Zuerst könnte Putin seine großen Langstrecken-Atomwaffenträger in verstreute Positionen verlegen, und einen Großteil seiner U-Boote mit ballistischen Raketen auf See schicken. Das wären erste Signale. Als nächstes könnte Russland ein NATO-Flugzeug, ein NATO-Schiff oder „einen Waffenkonvoi angreifen, der angeblich für die Ukraine bestimmt ist“. Um diesen Schritt zu unterstreichen, könnte Moskau „eine Atomwaffe auf offener See zur Explosion bringen.“

Mit dem Abschuss eines NATO-Militärjets könnte die Eskalationsspirale beginnen.Getty

Im schlimmsten Fall würde Moskau eine Atomwaffe direkt auf dem NATO-Gebiet abschießen. „Achtzig Prozent der Militärhilfe für die Ukraine fließen über einen Luftwaffenstützpunkt in Ostpolen, und daher wäre dieser Stützpunkt wahrscheinlich ein Hauptziel. Die Vereinigten Staaten könnten dann mit einem eigenen Atomschlag zurückschlagen und die Welt an den Rand der Zerstörung bringen.“

„Washington kann Putin nicht von Eskalation mit Atomwaffen abhalten“

Das werden sie aber voraussichtlich nicht tun, wie Putin aus gutem Grund spekulieren dürfte: „Die Ukraine ist für die Ambitionen des Kremls zu zentral – und für die der Vereinigten Staaten zu zweitrangig –, als dass Putin amerikanischen Drohungen Glauben schenken könnte.“ Putin würde auf einen Überraschungsangriff setzen, denn bei vielen kleinen Angriffen könnte er einen konventionellen Konflikt gegen die NATO riskieren, in dem Russland unterlegen ist. „Die bedauerliche Wahrheit ist, dass Washington Putin nicht davon abhalten kann, wegen des Krieges in der Ukraine so weit zu eskalieren, dass er Atomwaffen einsetzt.“

Paul Schröder übt scharfe Kritik: Die US-Beamten schätzen die Lage falsch ein, warnt er.

Die US-Politiker sollten daher russischen Spitzenbeamten klarmachen, „dass sie nicht zwischen Kapitulation und nuklearer Eskalation wählen können.“ Sie würden sich dann selbst dagegen sträuben, nukleare Maßnahmen zu ergreifen, denn: Es gibt einen Ausweg zwischen einem Sieg und einer demütigenden Niederlage.

Überdies sollte Washington China, Indien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien dazu ermutigen, Moskau vor einem solche Schritt zu warnen. Diese Länder tragen mit dazu bei, dass die russische Wirtschaftsmotor weiterhin läuft.