Politik kann irren. Doch fast nirgendwo haben ihre Irrtümer so katastrophale Folgen, wie im Krieg. Schließlich beginnt niemand einen Krieg, um ihn zu verlieren. Dass sich der Westen – und damit die NATO – im Falle des Ukraine-Kriegs zu Beginn der Invasion verkalkuliert hat, das räumen immer mehr Persönlichkeiten nun offen ein.

Russland im Sommer 2023 viel besser aufgestellt als erwartet

Nach der gescheiterten Gegenoffensive der Ukraine folgten wechselseitige Schuldzuweisungen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinem damaligen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, zwischen Kiew und Washington. Die USA gaben der ukrainischen Strategie die Schuld, die Ukraine wiederum der ungenügenden Ausrüstung. Doch möglicherweise war nichts von all dem ausschlaggebend, meint das US-Magazin „The New Yorker“ in einer ausführlichen Analyse: „Der entscheidende Faktor war das russische Militär. Es war besser, als man ihm nach seiner katastrophalen Leistung im ersten Kriegsjahr zugetraut hatte. Es war nicht demoralisiert, inkompetent oder schlecht ausgerüstet.“

Mit den Misserfolgen begann der Streit, unter anderem zwischen Selenskyj (Bild) und seinem damaligen Oberbefehlshaber Saluschnyj.

Anders als der Westen erwartet hatte, kämpften die Soldaten „auf Leben und Tod“, führten „eine brutale und effektive Verteidigung“ durch „und verfügten trotz aller Verluste über Kampfhubschrauber, Drohnen und Minen.“ Der ehemalige Marinesoldat Rob Lee, der nun Analyst des russischen Militärs am Foreign Policy Research Institute ist, kommentiert gegenüber „The New Yorker“: „Die Menschen zogen aus dem ersten Monat des Krieges sehr eindeutige Schlüsse, und ich denke, viele dieser Schlussfolgerungen waren falsch.“

Ex-Oberbefehlshaber Walerji Saluschnyj (Bild) war schon im vorigen Jahr pessimistischer.

Das russische Militär braucht oft „schmerzhafte Lektionen“ – aber dann passt es sich an

Zunächst hatten alle, auch General Mark Milley, der Vorsitzende der US-Generalstabschefs, mit einem raschen Sieg Russlands und einer Einnahme Kiews innerhalb von nur 72 Stunden gerechnet. Doch das ukrainische Militär überraschte alle mit seiner Cyberabwehr und seinem hartnäckigen Abwehrkampf, und Wladimir Putin überraschte alle ebenso mit einem unrealistischen Kriegsplan: Gestützt auf falsche Angaben seines Inlandsgeheimdienstes hatte der russische Präsident keinen nennenswerten Widerstand der Ukrainer erwartet. Schließlich ging den russischen Soldaten sogar das Benzin für die Panzer aus. Sie mussten sich bei Einheimischen nach dem Weg nach Kiew erkundigen.

US-Oberbefehlshaber Mark Miley (Bild) hatte wie fast alle mit einem raschen Sieg Moskaus gerechnet.
Wladimir Putin (Bild) hatte sich zunächst verschätzt – dann der Westen

Es folgte auch noch die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Herbst 2022, bei der die Ukraine erhebliche Gebiete zurückerobern konnte. Doch dann war Schluss. Im Sommer und Herbst 2023 stießen die ukrainischen Soldaten nicht länger auf jene unterbesetzte und demoralisierte Armee, die sie in Charkiw vorfanden. Militäranalyst Rob Lee: „Das russische Militär hat sich angepasst. Sie brauchen oft schmerzhafte Lektionen, aber dann passen sie sich an.” Nach Lees Ansicht ist weder Kiews Strategie, noch die zu späte Lieferung moderner Waffen des Westens ausschlaggebend für das Fiasko vom Sommer 2023: „Das meiste kam von der russischen Seite.“

Niemand spricht mehr von einem vollständigen Abzug der Russen

Scharfe Kritik an den unrealistischen Erwartungen übt auch Dara Massicot vom US-Think-Tank Carnegie Endowment for International Peace in Washington: „Die Behauptungen, das russische Militär sei ein inkompetenter, lernunfähiger Clown, der kurz vor dem Zusammenbruch stehe und so weiter, sind nicht hilfreich und haben echten Schaden angerichtet. Sie sind nicht zusammengebrochen. Sie sind immer noch da. Sie haben im Feld gestanden und über zwei Jahre hinweg westliche Waffen und Hilfe im Wert von Milliarden absorbiert.“

Wie der eXXpress bereits mehrfach berichtet hat, nützte Russland seine anhaltenden Öl- und Gas-Einnahmen, um die Waffenproduktion anzukurbeln, die mittlerweile drei mal so schnell läuft wie vor dem Krieg. Die meisten Militäranalysten sehen jetzt Russland im kommenden Jahr im Vorteil – ob mit oder ohne US-Hilfe an die Ukraine– und sie tun sich mittlerweile schwer damit, von einem militärischen Sieg der Ukraine zu sprechen.

Olga Oliker, eine ehemalige Pentagon-Mitarbeiterin, die jetzt Leiterin des Programms für Europa und Zentralasien bei der International Crisis Group ist, definiert einen Sieg neu: „Wenn man sagt, das einzige, was einen Sieg ausmacht, ist, dass die Russen vollständig von der Krim und dem Donbas abziehen, die Ukraine in der NATO ist und Moskau irgendwie vom Erdboden verschwindet – das ist ein unrealistisches Ziel. Für mich ist ein ukrainischer Sieg eine Situation, in der Russland so etwas nicht mehr tun kann oder es zumindest sehr schwer haben wird, es wieder zu tun.“

Ein Konvoi russischer Panzer, der sich auf die Grenze in der Region Donbas zubewegt.Stringer/Anadolu Agency via Getty Images

Kriege, die nicht rasch enden, dauern oft lange

Kriege, die nicht rasch zu einem Ende geführt haben, dauerten meist lange. Dabei könnte Russland, so die westliche Hoffnung, durch innere Instabilität zu Verhandlungen und Zugeständnissen gebracht werden. Einem hochrangigen Beamter der Biden-Administration zufolge kann Russland seine Kriegsausgaben bis zum Frühjahr 2025 auf dem jetzigen Niveau fortsetzen. Danach werde es aber in Schwierigkeiten geraten.

„The New Yorker“ nennt aber ein Problem für den Westen, auf das im Standardwerk „Democracies at War“ (2002) von Dan Reiter und Allan C. Stam bereits hingewiesen, das jedoch meistens überlesen wird. Bekanntlich argumentiert der Klassiker, dass Demokratien in Kriegen im Schnitt besser abschneiden als Autokratien. Das gilt aber nicht, wenn sich der Krieg in die Länge zieht: „Wenn der versprochene schnelle Sieg nicht eintritt, kann die Bevölkerung ihre Entscheidung, dem Krieg zuzustimmen, überdenken und ihre Unterstützung aktiv zurückziehen.“ Die beiden Autoren halten fest: „Je länger ein Krieg andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass Autokratien gewinnen.“

Damit rechnet wohl Putin.

Harte Kämpfe um BakhmutJohn Moore/Getty Images