Balazs Orban ist politischer Direktor von Ministerpräsident Viktor Orban und damit dessen maßgeblicher Berater. Trotz seiner Namensgleichheit ist er mit dem ungarischen Regierungschef nicht verwandt. Im eXXpress-Interview spricht Balazs Orban über Doppelmoral in Brüssel und worum es bei den jüngsten Streits Ungarns mit der EU-Kommission in Wahrheit geht. Überdies spart er nicht mit Kritik an der Asylpolitik der EU – und ebenso an ihrer Außenpolitik: Meistens werde eine gemeinsame Linie nur vorgetäuscht. Nach Meinung des politischen Beraters sollten die europäischen Politiker dringend das Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin suchen, im Interesse Europas.

Balazs Orban (l.) im Interview mit eXXpress-Redakteur Stefan Beig (r.)

„Der Westen schürt den Krieg in der Ukraine weiter“

Russlands Präsident Wladimir Putin erklärte kürzlich im TV-Interview mit Tucker Carlson: Sobald der Westen keine Waffen mehr an die Ukraine liefert, sei der Krieg innerhalb von wenigen Wochen vorbei. Dasselbe sagt Ministerpräsident Viktor Orban. Vertreten also Ungarn und Russland hier denselben Standpunkt?

Nein, wir haben seit dem Beginn eine andere Sicht auf den Konflikt. Wir haben Russlands Invasion immer als klare Verletzung des Völkerrechts bezeichnet. Doch darum geht es jetzt nicht. Nun sprechen wir darüber, wie wir diesen Konflikt lösen. Unsere Position lautet seit Jahren: Es kann keine militärische Lösung auf dem Schlachtfeld geben. Wir sollten uns wieder auf Diplomatie besinnen. Davon versuchen wir in Brüssel und auch sonst überall unsere Verbündeten zu überzeugen. Die Russen haben diesen Krieg begonnen, aber der Westen schürt ihn weiter. Das halten wir für keine gute Idee, denn dieser Weg mündet entweder im Zusammenbruch der ukrainischen Armee oder in einer Eskalation, die zu einem Dritten Weltkrieg führt. Kurz: Die ungarische und die russische Position sind aus offensichtlichen Gründen verschieden. Nur sehen wir auch den Westen in der Verantwortung.

Ministerpräsident Viktor Orban (l.) zu Besuch bei Präsident Wladimir Putin im vergangenen Oktober: Ungarn bleibt im Kontakt mit dem Kreml.APA/AFP/POOL/Grigory SYSOYEV

„Der Krieg in der Ukraine macht Europa schwächer“

Westliche Politiker entgegnen: Ohne Waffenlieferungen kann sich Kiew nicht gegen die russische Aggression verteidigen. Dann würde die russische Armee noch mehr ukrainisches Territorium erobern.

Deshalb ist Diplomatie so wichtig. Wir müssen mit den Russen reden und Verhandlungen aufnehmen. Das lehnen die westlichen Staats- und Regierungschefs ab. Sie wollen nicht mit Moskau sprechen. Aus unserer Sicht ist das ein Fehler. Wir sollten zuerst die Kommunikationskanäle wiederherstellen, einen Waffenstillstand erreichen, und uns dann auf eine schwierige und sehr lange diplomatische Mission einlassen. Am Ende sollte es möglich sein, ein langfristiges Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Russland zu erzielen, das auch Auswirkungen auf die Ukraine hat. Ich halte das für den einzigen Ausweg. Ob er im Interesse Russlands und der USA ist, weiß ich nicht, aber es sollte definitiv im Interesse Europas sein, denn dieser Krieg macht uns nur schwächer.

Der Ukraine-Konflikt wird von der westlichen Politik weiter geschürt, kritisiert Balazs Orban. Im Bild: Präsident Selesnyj (l.) mit Außenministerin Baerbock (r.).

„Beim Ukraine-Konflikt ist Europa offensichtlich gespalten“

Denken Sie, dass alle europäischen Staaten in diesem Konflikt die gleichen Interessen verfolgen?

Nein, Europa ist offensichtlich gespalten. Viele osteuropäische Länder sehen den Konflikt als Chance, Russland zurückzudrängen, zu schlagen und für lange Zeit zu vernichten. Das ist nicht unser Ziel. Auch andere europäische Länder wollen keine anhaltende Konfrontation mit Russland. Doch diese Differenzen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten machen uns schwach und ehrlich gesagt unfähig, den Konflikt zu managen.

„Außenpolitik ist auch innerhalb der EU eine nationale Angelegenheit“

EU-Chefdiplomat Josep Borrell versucht aber, eine gemeinsame EU-Außenpolitik zu verkünden. Halten Sie das für einen Fehler?

Ja. Seit 2019 sind die Verantwortlichen in Brüssel in fast jedem Bereich gescheitert – ob bei der Migration, Außenpolitik, grünen Transformation und so weiter. Europa wird nicht von richtigen Führungskräften gemanagt. Überdies sollte die Außenpolitik auch innerhalb der EU eine Frage der nationalen Souveränität sein. Die EU kann nur dann gemeinsam auftreten, wenn es zuvor ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten gibt. Fehlt das, gibt es keine europäische Außenpolitik. Doch auch ohne Einigung unter den 27 Mitgliedsstaaten tut der Auswärtige Dienst so, als hätte man sich geeinigt, und als könnte er nun im Einklang mit außenpolitischen Entscheidungen der EU handeln.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell (l.) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (r.) täuschen eine gemeinsame EU-Außenpolitik nur vor, kritisiert Budapest.

Das gilt nicht nur für den Russland-Ukraine-Krieg, sondern auch für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Viele Länder, wie Österreich, Ungarn, Tschechien, Deutschland und andere mitteleuropäische Länder sind definitiv nicht mit den Pro-Hamas-Erklärungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes einverstanden. Es ist inakzeptabel, dass jemand solche Erklärungen im Namen der EU abgibt.

„Kein seriöses Land kann zulassen, dass sich ausländische Geldgeber in die Wahlen einmischen“

Jüngst intensivierten sich die Spannungen zwischen Budapest und Brüssel, weil Ungarn ein neues Gesetz über die nationale Souveränität beschließt. Was bezweckt dieses Gesetz?

Wir machten sehr schlechte Erfahrungen bei den Wahlen 2022. Aus geleakten Videos, Dokumenten und Geheimdienstberichten ging hervor: Es flossen ausländische Gelder an die Oppositionsparteien, um so die ungarische Politik zu beeinflussen. Davon wussten wir während des Wahlkampfes nichts. Es gab nur Gerüchte. Als nach der Wahl die Beweise auftauchten, war dies ein ernstes Problem. Kein seriöses Land kann zulassen, dass sich ausländische Spender in die eigenen Wahlen einmischen. Wir beschlossen daher, die Schlupflöcher in unserem Rechtssystem zu schließen, um unsere Souveränität und Wahlen zu schützen. Dies ist der Grundstein für das Überleben eines seriösen Staates.

„Die ausländische Finanzierung von Wahlkämpfen ist bereits seit 30 Jahren verboten“

Müssen also gemäß diesem Gesetz jene Organisationen verboten werden, die Geld aus dem Ausland erhalten und die Wahlen beeinflussen könnten? Darunter könnten dann genauso gut internationale NGOs fallen.

Nein, das tun sie nicht. Das Gesetz ist eindeutig. Schon vor den Wahlen 2022 durften nicht Wahlkämpfe mit ausländischen Geldern finanziert werden. Doch nun geschah es. Über die NGOs wurden dabei die Wahlkämpfe der Vereinigten Opposition finanziert. Das Problem bestand nicht darin, dass NGOs finanziert werden. Das Problem war der Zweck des Geldes.

Nochmals: Die ausländische Finanzierung von Wahlkämpfen ungarischer Oppositionsparteien ist bereits seit 30 Jahren illegal – ebenso auch in anderen Ländern. Dennoch geschah es, ohne unser Wissen. Dank des neuen Gesetzes beobachtet nun eine Institution die Wahlperiode und stellt sicher, dass solche Finanzierungen nicht geschehen. Es geht einzig darum, das öffentlich zu machen und notfalls rechtliche Schritte einzuleiten.

Das Gesetz zur nationalen Souveränität soll ausländische Wahlkampffinanzierung verbieten, so wie in anderen Ländern auch, sagt Balazs Orban (l.).

„Brüssel will rechtskonservativen Regierungen Schwierigkeiten bereiten“

Wie erklären Sie sich die Kritik aus Brüssel?

Brüssel sollte die Mitgliedstaaten eigentlich bei der Verteidigung ihrer Souveränität unterstützen. Überdies kam das Geld für Wahlkämpfe nicht aus der EU, sondern hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten. Dafür gibt es Indizien. Ähnliche Gesetzesinitiativen wie die unsere gab es schon vorher, aber nur wir werden dafür kritisiert. Es handelt sich um Doppelmoral. Brüssel missbraucht seine Macht, um Mitgliedstaaten mit rechtskonservativen, christdemokratischen Regierungen ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder die EU und die Brüsseler Institutionen mischen sich nirgendwo in die Innenpolitik ein. Oder sie mischen sich tatsächlich ein, aber nur bei eindeutigen Rechtsverletzungen – nicht aus politischen Gründen.

„Die EU will, dass Ungarn illegale Migranten hereinlässt“

Auch bei der Migrations- und Gender-Politik waren Sie sich mit der EU-Kommission permanent uneinig.

Wir haben das Kinderschutzgesetz beschlossen. Ihm zufolge darf in Schulen, Kindergärten und Bildungseinrichtungen keine Gender-Propaganda verbreitet werden. Daraufhin wurde ein Vertragsverletzungsverfahren gegen uns eingeleitet.

Bei der Migration haben wir ein funktionierendes System: Wir haben eine physische Barriere, einen Zaun, und dazu ein Rechtssystem, das Migranten draußen hält. Brüssel hat dennoch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen uns eingeleitet und gewonnen. Nun will man unser System zerstören und Migranten hereinlassen. Wir wollen das nicht. Illegale Migranten haben auf dem ungarischen Staatsgebiet nichts zu suchen.

Ungarn möchte an seinem Asylsystem festhalten, trotz der Kritik aus Brüssel, unterstreicht Balazs Orban.

„Migranten müssten außerhalb der EU Asyl beantragen“

Warum kommen dann immer noch Migranten von Ungarn nach Österreich?

Die österreichischen Polizeikräfte an der Grenze werden es bestätigen: Wir konnten im vergangenen Jahr mehr als 170.000 Menschen aufhalten. Stellen Sie sich vor, wie viele Menschen nach Österreich kommen würden, wenn wir das nicht getan hätten.

Würden Sie sagen, dass die Asyl- und Migrationspolitik der EU gescheitert ist? Wenn ja: Was sollte getan werden?

Ich würde dieser Aussage zustimmen. Das System funktioniert nicht. Gemäß seiner Logik sollen wir Menschen einreisen lassen und dann entscheiden, ob sie illegale Migranten oder Flüchtlinge sind. Wenn sich herausstellt, dass sie illegale Migranten sind, versuchen wir, sie zurückzuschieben, aber das funktioniert offensichtlich nicht.

Wir sollten ein neues System einführen, das es unmöglich macht, ohne Erlaubnis in das Gebiet der EU oder in den Schengen-Raum einzureisen. Die Migranten müssen außerhalb der EU Asyl beantragen. Wenn sie es bekommen, dürfen sie das Gebiet der EU betreten. Dafür setzen wir uns ein. So funktioniert auch das System in Ungarn: Man kann in Belgrad Asyl beantragen. Wir lassen aber nicht zu, dass jemand illegal unsere Grenzen überschreitet. Ich denke, das ist der einzig wirksame Weg.

„Die EU sollten Staaten, die ihre Grenzen kontrollieren, unterstützen“

Wer soll das umsetzen? Die EU oder die Schengen-Staaten?

Ich denke, das sollten die Mitgliedsstaaten tun, allerdings sollten sie dabei von der EU unterstützt werden. Zurzeit tun es einige Staaten nicht, andere so wie wir hingegen schon, nur werden sie dabei nicht von Brüssel unterstützt, sondern ständig angegriffen – wegen des Rechtssystems und der Grenzkontrollen. Die EU sollte genau das Gegenteil tun und Mitgliedstaaten wie uns in finanziellen und rechtlichen Fragen mit einem neuen Rechtsrahmen unterstützen.

Die Mitgliedsstaaten sollten sich um den Stopp der illegalen Migration kümmern, dabei aber von der EU unterstützt werden, fordert Orbans Polit-Berater. Im Bild: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (47).

„Die EU-Staatschefs drohten Viktor Orban unverhohlen“

Kurz vor der Einigung auf weitere EU-Hilfsgelder an die Ukraine berichtete die Financial Times von einem geleakten Dokument, demzufolge die EU Ungarn erpresst hat. Sollte Budapest weiterhin Zahlungen an Kiew blockieren, wären demnach massive Maßnahmen gegen Ungarns Wirtschaft erfolgt. Umgehend leugneten Persönlichkeiten in Brüssel den Bericht. Solche Pläne gäbe es nicht, man setze weiter auf Gespräche, hieß es. Ministerpräsident Orban scheint das anders zu sehen. Gab es also diese Erpressung? War die Lage ernst?

Sie war ernst.

Es handelte sich also nicht um ein Missverständnis der Financial Times?

Nein, nein, nein. Als die Staats- und Regierungschefs der EU mit Ministerpräsident Orban telefonierten, teilten sie ihm genau diese Drohung unverhohlen mit.

Durch ein Leak erfuhr die Financial Times (Bild) von der Erpressung.

„Ungarn setzte sich durch: Keine bedingungslose Finanzhilfe für Kiew“

Ministerpräsident Orban hat anscheinend nachgegeben. Letztlich einigte man sich auf finanzielle Hilfen aus dem Haushalt für zwei Jahre.

Die Schlüsselfrage war zunächst: aus dem Haushalt oder außerhalb des Haushalts. Falls aus dem Haushalt, dann nur gemäß bestimmten Forderungen von uns. Die erste davon war, dass zumindest Kontrollmechanismen eingeführt werden. Der ursprüngliche Vorschlag war: Gebt der Ukraine das Geld, und lasst sie damit machen, was sie will. Was mit dem Geld passiert, interessiert uns nicht. Ich denke, eine EU, die einem Nicht-EU-Land bedingungslose Finanzhilfe gewährt, nimmt sich selbst nicht ernst.

Wir setzten uns durch: Nun gibt es einen Kontrollmechanismus. Wir werden also Informationen darüber erhalten, was mit dem Geld passiert, und können jedes Jahr von Neuem darüber sprechen. Das ist, wie ich meine, gut für Österreich, für Ungarn, und für alle Länder. Wir haben darüber hinaus noch etwas erreicht: Der Europäische Rat hat deutlich gemacht, dass alle Mitgliedstaaten fair behandelt werden müssen. Damit sendet der Rat eigentlich eine Botschaft an das Parlament, das Ungarn ständig einer ideologischen Blockade aussetzen will.

Nach der Einigung mit der EU-Spitze schüttelt Viktor Orban (r.) Kanzler Olaf Scholz (l.) die Hand.APA/AFP/Ludovic MARIN

Druck auf Ungarn: „Es war de facto politische Vergewaltigung“

Sie bestreiten damit die Beschwichtigungen aus Brüssel? Warum?

Weil wir andere Erfahrungen haben. Führende Politiker haben meinen Ministerpräsidenten angerufen und ihm das offen erklärt. Wir lehnten diese Vorgangsweise ab. Sie widerspricht dem Grundgedanken der EU. Das ist de facto politische Vergewaltigung. Wir waren auch sehr deutlich und machten klar, dass wir keine Angst haben. Wir denken, die ungarische Wirtschaft ist stark genug.

Das Problem waren nicht Gelder an die Ukraine. Das Problem war: Man wollte die EU-Hilfe an Kiew über den gemeinsamen Haushalt abwickeln. Wir erklärten: Wir sind zur Unterstützung der Ukraine bereit, aber nicht über eine Änderung des Haushalts. Falls doch, müssten wir uns zuvor auf die Bedingungen einigen.

In einem neuen Buch erläutert Balazs Orban Ungarns politische Strategie.

Neue Chancen für kleine Staaten in einer sich verändernden Weltordnung

Eben ist Ihr Buch „Das strategische Denken Ungarns“ erschienen. Wie würden Sie mit wenigen Worten Ungarns strategisches Denken definieren?

Ich habe das Buch geschrieben, damit jeder, den es interessiert, weiß, wer wir sind und warum wir so denken, wie wir es tun. Die Grundidee des Buches ist: Wir erleben eine sich verändernde Weltordnung. Darin haben selbst kleine oder mittelgroße Staaten wie Ungarn, Österreich und andere Länder Raum für ihre eigene Strategie. Überdies sollte die ungarische Strategie nicht von außen importiert werden, sondern von uns selbst entwickelt werden. Sie sollte in unserer Geschichte, unserer Geographie und in unserer Gesellschaft verwurzelt sein.

Balazs Orbans Buch liegt auch in deutscher Übersetzung vor.

Wir Ungarn glauben immer noch an starke Nationalstaaten, und an die Bedeutung der traditionellen Familie als Eckpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft. Überdies glauben wir an die Wichtigkeit einer gewissen Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und dem Staat. Schließlich sollten wir auch in der Lage sein, unsere Grenzen zu kontrollieren und unsere Souveränität zu verteidigen.

Darum geht es in ganz wenigen Worten in dem Buch.